Bleiben christliche Werte in Europa auf der Strecke?

An welchen Werten orientiert sich eigentlich die Politik in Europa? Zählen Werte überhaupt noch im so genannten "christlichen Abendland"? Nicht nur mit diesen Fragen befassten sich am Wochenende Experten aus Kirche und Politik auf einer Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad-Kreuth, unter ihnen der italienische Politiker Rocco Buttiglione. Ein Bericht von Smarand Lieberfeld.
Von PRO

Die Phänomene des Umgangs mit Religion und Werten könnten in Europa derzeit nicht unterschiedlicher sein. In Holland und Deutschland werden Kirchengebäude verkauft und zu nicht-religiösen Zwecken umgenutzt, in Rumänien wurden seit 1989 über 1.000 Kirchen neu gebaut. In Holland und der Schweiz gibt es aktive Sterbehilfe, in England wird geklont und an Stammzellen geforscht. Gleichzeitig ist der Ruf nach Werten weit verbreitet. Doch welche Werte sollen es sein? Die traditionellen Werte des „christlichen Abendlands“ – angesichts zunehmender Entchristlichung der europäischen Gesellschaften? Toleranz und Dialog – angesichts eines zunehmend militanten Islam?

Für den stellvertretenden Präsidenten der Abgeordnetenkammer Italiens, Rocco Buttiglione, ist klar: „Der Kampf um Europa beginnt in der eigenen Seele.“ Er äußerte diese Überzeugung im Rahmen einer Expertentagung der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth, bei der sich Europapolitiker, Bischöfe verschiedener Kirchen, christliche Publizisten und Wissenschaftler, Theologen und Philosophen mit den christlichen Signaturen Europas im 21. Jahrhundert beschäftigten.

„Religion in Europa wurde zurückgedrängt“

Über Jahrzehnte sei die Religion in Europa immer mehr zurückgedrängt worden, so Buttiglione weiter. „Das Christentum galt als überholt, es gab einen Kampf gegen die Präsenz der Religion in der Öffentlichkeit.“ Das Pontifikat von Papst Johannes Paul II. habe hier eine Wende gebracht. Es habe gezeigt, dass Religion auch heute prägend sein könne. Der Christdemokrat Rocco Buttiglione erregte 2004 große Aufmerksamkeit. Obwohl Kandidat für den Posten eines EU-Kommissars, bekannte er sich öffentlich zur Lehre seiner katholischen Kirche und nannte die Homosexualität eine Sünde. Deswegen wurde er nicht mehr EU-Kommissar, obwohl er dies ausdrücklich als seine private Glaubensüberzeugung bezeichnete und jede Diskriminierung ablehnte.

„Wenn man als praktizierender Katholik, der seinen Glauben öffentlich bezeugt, nicht mehr EU-Kommissar werden darf, dann irritiert uns das schon sehr“, kommentierte der Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung und langjährige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair den damaligen Vorgang. Er hielt fest: „Europa und der Beitritt der Türkei zur EU haben etwas mit Kultur und Werten zu tun. Es geht nicht darum, wo die Amerikaner NATO-Basen unterhalten wollen.“ Auch die Politik müsse Europa inhaltlich bestimmen und mehr sein „als der niedrigste Schnittpunkt der Befindlichkeiten“.

Es geht in Europa um Werte

Der katholische Erzbischof von Bamberg, Ludwig Schick, plädierte für eine konkrete Umsetzung von christlichen Werten gerade in der Politik. „Wenn Europa einen Sinn haben soll, dann muss es ein Europa der Werte sein, nach innen und nach außen. Es gibt heute ein großes Interesse an Werten, aber die Umsetzung fehlt. Ohne Wertebewusstsein, ohne Wertepraxis und ohne Wertekonsens werden wir unsere Zukunft in Europa nicht gestalten können, wir werden sie verfehlen.“ Hier komme der Religion eine große Aufgabe zu, denn: „Die Kirchen und Religionen sind die vorzüglichen Produktionsstätten für Werte.“

Abt von Donnersmarck: „Politiker in der populistischen Falle“

Doch diese müssen auch „unter’s Volk“ gebracht werden. Der Abt des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz bei Wien, Pater Gregor Henckel von Donnersmarck, spricht von der „missionarischen Dimension des Christentums heute“. Die christlichen Werte müssten auch für Politik und Wirtschaft wieder als wichtig erkannt werden. „Politiker können in der heutigen Mediengesellschaft kaum Werte einbringen, weil sie in der populistischen Falle sind.“ Zur gegenwärtigen Finanzkrise hielt der Theologe und Ökonom fest: „Der Markt ist nützlich, aber nicht heilig.“

Die Leiterin des EKD-Büros in Brüssel, Katrin Hatzinger, zeigte auf, wie die Kirchen sich auf europäischer Ebene einbringen. Sie hielt fest: „Dazu zählt der Blick auf die Religionsfreiheit.“ Als Beispiel erwähnte sie die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei: „Die EKD weist immer wieder darauf hin, dass es in der Türkei Übergriffe auf Christen gibt, dass protestantische Pastoren ermordet wurden, dass es keinen Rechtsschutz für die Kirchen als Religionsgemeinschaften gibt und keine Ausbildungsmöglichkeit für Priester und Theologen.“

„Alltagsrelativismus“

Und die Politik selbst? Für den CSU-Europaabgeordneten und Quästor des Europäischen Parlaments, Ingo Friedrich, ist „segenreiches Gotteswirken in der Entwicklung der Europäischen Union spürbar“. Die Kirchen hätten eine wichtige Rolle auf europäischer Ebene, so der Politiker. Der evangelikale Publizist und Vertreter der Deutschen Evangelischen Allianz bei Bundestag und Bundesregierung, Wolfgang Baake, forderte bei der Expertentagung eine „Ökumene des Bekennens und eine Gemeinschaft des Betens“. Es brauche neues, elementares Gottvertrauen. Dabei kämpfen die Kirchen durchaus nicht gegen militanten Atheismus. Darauf wies der evangelische Pfarrer und Publizist Jürgen Henkel hin. „Der militante ideologische oder politische Atheismus der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts ist in der politischen Freiheit heute vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in einen pragmatischen Alltagsrelativismus übergegangen. Wir haben es nicht mehr so sehr mit systematischer und ideologisch begründeter Gegnerschaft zum Christentum zu tun, sondern mit der Indifferenz der Menschen“, so Henkel.

„Tabus sind längst gebrochen“

Zu den grundsätzlichen europäischen Werten gehöre die Menschenwürde als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit. Henkel sagte, dass auch die Wahrheitsfrage wieder neu zu stellen sei, denn: „Mehrheit und Wahrheit sind sehr unterschiedliche Dimensionen. Es muss für Länder, die sich als europäisch verstehen, Tabus geben, Fragen, die nicht verhandelt werden, weil sie nicht verhandelbar sind. Und genau in diesem Bereich haben wir von der Stammzellenforschung über das Klonen bis hin zu Spätabtreibungen und zur aktiven Sterbehilfe in Ländern Europas schon einen Dammbruch nach dem anderen erlebt.“ Christliche Theologie müsse heute mehr denn je darauf hinweisen, dass das menschliche Leben nicht verfügbar sei, dass ihm eine Würde von Anfang bis zuletzt innewohne. 

Bei alledem darf auch die kulturprägende Wirkung des Christentums nicht außer acht gelassen werden. Andreas Püttmann von der Konrad-Adenauer-Stiftung wies anhand von Umfragen seiner Stiftung darauf hin: „Wo Schüler den gekreuzigten Christus für Spartakus halten oder Golgatha für eine Zahncreme und eine Lehrerin in Olpe allen Ernstes meinte, der Termin des Osterfestes werde vom Kultusministerium festgelegt, dort ist mit dem Glauben offenkundig auch kulturelles Orientierungswissen abhanden gekommen.“ Große Themen und Herausforderungen also für Politik, Kirche und Gesellschaft.

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