Philosoph und Islamexperte: „Europa hasst sich selbst“

In Bezug auf den Islam sei es wichtig, dass Europäer im Frieden mit sich sind, anstatt sich selbst zu hassen. Ansonsten könne Europa "nicht einmal mehr akzeptieren, dass es anders ist", sagte der französische Philosoph Rémi Brague. In einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" kritisierte der Professor "Amateur-Islamexperten" und das übliche Bild von Kreuzzügen.
Von PRO

„Das Christentum weiß nicht, wo es den Islam hingeben soll, das führt zu Misstrauen, aber auch Interesse. Der Islam dagegen glaubt genau zu wissen, was das Christentum ist, der Koran sagt es ja. Es ist für ihn ein überwundener alter Hut. Deswegen gibt es auch kaum Muslime, die das Christentum wirklich gut kennen. Den Dialog macht das nicht einfacher“, erklärte Brague die offenbar wachsende Neugier der Europäer an Koranlektüren und Mohammed-Biografien.

Europa habe angefangen, sich aufgrund einer Art „Reue ohne Absolution“ selbst zu hassen, so Brague. Gründe dafür seien etwa Sklaverei, Inquisition, die Kreuzzüge oder die Eroberung Südamerikas sowie weitere Ereignisse der europäischen Geschichte, die als unendliche Folge von Verbrechen angesehen würden. Das sei seiner Meinung nach nicht falsch. „Aber man zeige mir eine Zivilisation, die die Möglichkeit hatte, auf andere Einfluss auszuüben, und die nur Gutes gebracht hätte“, gibt er zu bedenken.

„Kein Einfluss des Islam auf abendländische Kultur“

Brague widerspricht der weit verbreiteten Ansicht, dass der Westen einen Großteil des antiken Wissens auf dem Umweg über die islamische Welt kennengelernt habe. Im neunten Jahrhundert wurden in Bagdad und anderen Gegenden viele griechische Werke zu Mathematik, Medizin, Philosophie, Astronomie und Astrologie ins Arabische übersetzt. Zwei Jahrhunderte später interessierte sich der Westen für sie, doch es gab keine griechischen Manuskripte mehr. Daher übertrugen die Übersetzer in den von Arabern eroberten Gebieten die Werke ins Arabische. „Früher wurde dieser arabische Einfluss vernachlässigt. Jetzt wird er übertrieben. (…) Spricht man vom Beitrag des Islam zur Entwicklung der abendländischen Kultur, wie es derzeit geschieht, muss man außerdem klarmachen, was man meint. Meint man die vom Islam geprägte Zivilisation, stimmt es. Meint man den Islam als Religionsgemeinschaft, war der Beitrag gleich null“, so der Philosoph. Dabei werde der islamische Beitrag zur Entwicklung des Abendlands stets überbewertet.

Zudem hätten im neunten Jahrhundert bis auf ein oder zwei Ausnahmen ausschließlich Christen die Werke ins Arabische übersetzt. Die muslimische Welt habe die Kreuzzüge eigentlich bereits völlig vergessen. Der arabische Übersetzer Joseph François Michaud musste dabei sogar „neue Wörter für Kreuzzug und Kreuzfahrer finden, das Arabische hatte gar keine dafür“, bemerkte der Philosoph. „Ein großer Teil des Bildes, das man im Mittleren Osten von den Kreuzzügen hat, ist also eine vom Westen inspirierte Rekonstruktion. Völlig absurd wird es, wenn die Kreuzzüge als erste Etappe der Kolonialisierung gesehen werden. Das islamische Volk ist das belogenste Volk der Welt.“

Inflation der „Islamexperten“

Die Zahl der Islamexperten habe sich erstaunlicherweise zwischen dem 10. und 12. September 2001 „verzehnfacht“, so Brague. „Heute muss man unterscheiden zwischen Islamwissenschaftlern und denen, die sagen, dass sie Islamwissenschaftler sind – das sind ganz und gar nicht dieselben.“

Rémi Brague, 1943 in Paris geboren, studierte Philosophie, klassische Sprachen, später Hebräisch und Arabisch. Heute ist er Professor für mittelalterliche und arabische Philosophie an der Universität „Paris I“ sowie Inhaber des Guardini-Lehrstuhls für Philosophie der Religionen Europas an der Universität München. (PRO)

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