Pfarrer: Warum Kinder ballern und sich prügeln müssen

"Wenn wir Heranwachsenden die Möglichkeit nehmen, Gewalt und Aggressionen spielerisch auszuüben, lösen wir keine Probleme, sondern schaffen sie erst recht." Diese Ansicht vertritt der evangelische Pfarrer Thomas Hartmann in seinem Buch "Schluss mit dem Gewalt-Tabu", das jetzt im Eichborn-Verlag erschienen ist. Seiner Ansicht nach helfen Verbote von Killerspielen nicht weiter. Im Gespräch mit pro-Redakteurin Ellen Nieswiodek-Martin erläutert er seine Ansichten.
Von PRO

pro: Herr Pfarrer Hartmann, Sie treten dafür ein, dass Kinder ballern und raufen müssen. Warum?
Hartmann: Vor allen Dingen den Jungen liegt das Raufen im Blut. Sie messen ihre Kräfte und spüren auf diese Art eigene Grenzen, aber auch die Grenzen der anderen. Das ist ein wichtiger Lernprozess. Früher fand man es übrigens normal, dass Kinder auch mal raufen und toben.

Heißt das, das Verhältnis zur Gewalt hat sich geändert?
Seit der Friedensbewegung sind Eltern und Erziehende viel sensibler im Umgang mit den ganz normalen Raufereien unter Jungen. Die Prügeleien, die Erich Kästner beispielsweise in dem Buch „Das fliegende Klassenzimmer“ beschreibt, würden Eltern heute zu Recht nicht mehr akzeptieren. Sie greifen aber meist viel zu früh ein, geben den Kindern kaum noch Gelegenheiten zum spielerischen Kräftemessen. Dabei unterscheide ich klar zwischen spielerischer und zerstörerischer Gewalt.

Sind die Spiele Fluchtorte vor der Erwachsenenwelt?
Kinder und Jugendliche haben zu allen Zeiten ihre eigene Welt gesucht, in der sie sich von den Erwachsenen abgrenzen. Dazu gehören auch Grenzüberschreitungen und Tabubrüche. In meiner Jugend provozierten wir die Eltern mit Postern und Musik von Alice Cooper. Klar nutzen vor allem Jungen auch die Möglichkeit, virtuell aus dem geordneten Milieu auszubrechen.

Und Egoshooter gehören zur Abgrenzung dazu?
Ja, vor allem, weil sie meist heimlich gespielt werden. Was verboten ist, macht man eben heimlich. Das gibt einen bestimmten Kick.

Sind Sie deshalb dagegen, die so genannten Killerspiele zu verbieten?
Ich denke, Bayerns Innenminister Beckstein und der Kriminologe Pfeiffer etwa machen es sich zu einfach. Sie zeigen die schlimmsten Ausschnitte von Shootern und fordern ein Verbot. Man kann aber die Computerspiele nicht auf derartige Szenen reduzieren. Dass andererseits Spiele wie Doom 3 nichts für 13-Jährige sind, ist völlig klar.

Wäre es nicht einfacher, wenn es keine brutalen Spiele mehr zu kaufen gäbe?
Gewalt verherrlichende Spiele sind schon lange verboten, da sind ja zum Glück bereits Grenzen gesetzt. Aber im Internet kommen Jugendliche trotzdem an alles dran. Alles, was verboten ist, hat einen hohen Stellenwert für Jugendliche. Deshalb ist die Medienkompetenz der Eltern so wichtig.

Sie sind also doch nicht für brutale Spiele im Kinderzimmer?
Natürlich nicht. Eltern sollten die Altersempfehlungen der Unterhaltungs-Software-Selbstkontrolle (USK) beachten. Das habe ich bei meinen Kindern auch gemacht. Und indizierte Spiele gehören nicht in die Hände von Kindern und Jugendlichen. Nicht weil sie dadurch zu gewalttätigen Amokläufern würden, das ist absurd. Sondern, weil sie mit den Bildern nicht klar kommen. Außerdem halten die Spiele sie davon ab, andere wichtige Dinge zu tun.

Sie sehen keine direkten Zusammenhänge zwischen Jugendgewalt und Computerspielen?
Wenn es stimmen würde, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Gewalttaten und Spielen gäbe, dann würden die Statistiken anders aussehen. Die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen an Schulen hat aber nicht zugenommen, sondern die Zahl der Vorfälle unter Jugendlichen ist sogar insgesamt rückläufig, wie verschiedene Zehnjahresuntersuchungen beweisen.

Sie haben die Amokläufe in den USA und in Deutschland unter die Lupe genommen und herausgefunden, dass 16 der 18 Amokläufer keine Computerspieler waren.
Das habe ich dem Buch von Gerard Jones „Kinder brauchen Monster“ entnommen. Aber egal, wie genau diese Zahl ist, das waren jedenfalls allesamt Menschen, die Hilfe benötigt hätten. Die Hilferufe der Jugendlichen wurden  von ihrer Umwelt offensichtlich nicht wahrgenommen. Wir müssen im Vorfeld ansetzen, an der höheren Kompetenz der Lehrer und Eltern arbeiten, sie sensibilisieren. Die Schulsozialarbeit müsste ausgebaut werden. Das ist anstrengend und kostet Geld. Computerspiele zu verbieten ist eine einfache Nummer, die auf dem Papier stattfindet, aber an den wahren Ursachen vorbeigeht.

Sie weisen darauf hin, dass auch die Bibel voller Gewalt ist. Sie sagen sogar, dass manche biblischen Geschichten auch Vorlagen für Ego-Shooter sein könnten. Gehen Sie da nicht ein wenig zu weit?
Mir geht es darum, in der ganzen Diskussion zu zeigen, dass manche Geschichten der Bibel sofort indiziert würden, wenn sie denn als Spiel oder Film daher kämen. Mit dem Hinweis auf die Gewaltbeschreibungen in der Bibel möchte ich einfach zeigen, dass es drastische Gewaltdarstellungen zu allen Zeiten in der Kultur gegeben hat.

Was will die Bibel uns damit ihrer Ansicht nach sagen?
Dass Gewalt zum Menschsein gehört und wir lernen müssen, mit unseren Aggressionen umzugehen.

Sollen also Eltern ihren Teenagern gewalthaltige Spiele erlauben?
Am besten wäre es, wenn Eltern ihre Vorurteile über Bord werfen und sich auf die Welt der Jugendlichen einlassen. Nicht gleich den Stecker ziehen, sondern differenzieren. Nachfragen: Was spielst Du denn? Ist das für dein Alter freigegeben? Verbote müssen an den richtigen Stellen gesetzt werden. Das muss man mit den Kindern besprechen. Dazu gehört natürlich auch, dass Jugendliche sich auf ein Gespräch einlassen. Oft gibt es Kommunikationsstörungen oder andere Probleme in der Familie, das merkt man dann, wenn man Grenzen aushandeln will. Das hat dann aber mit dem Computerspiel nichts zu tun, sondern ist ein allgemeines Erziehungsproblem.

Haben Sie ihren Kindern schon mal ein Computerspiel verboten?
Ja, als mein damals Elfjähriger mit GTA 2 San Andreas nach Hause kam, habe ich mir das angesehen und beschlossen, dass dies Spiel nicht geeignet war. Aber ich habe mit ihm eine Alternative gesucht. Das ist ganz wichtig: Wenn man etwas wegnimmt, sollte man auch einen Ersatz anbieten.

Vielen Dank für das Gespräch!

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