Der aus Israel stammende Kultur- und Politikwissenschaftler David Ranan hat für sein Buch „Muslimischer Antisemitismus“ Interviews mit 70 muslimischen Studierenden und Akademikern geführt. Dabei sind ihm in fast allen Gesprächen antijüdische Ressentiments begegnet. Die meisten der Interviewten hätten aber gar nicht gewusst, was im Koran über Juden stehe, erklärte Ranan am Dienstag bei der Vorstellung seiner qualitativen Studie in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung. Stattdessen sei in ganz vielen Gesprächen der Nahostkonflikt Thema gewesen. Daraus schließt Ranan, dass mehrheitlich nicht die Religion der Grund für die Ablehnung von Juden ist, sondern dass diese einen politischen Hintergrund hat.
Muslime hätten kein religiös begründetes Problem mit Juden. Während christliche antijüdische Ressentiments biblisch begründet sein könnten, weil diese dem biblischen Bericht nach Gottes Sohn umgebracht hätten, gebe es eine solche theologische Sicht nicht im Islam. An dessen Stelle stehe ein ungelöster Territorialkonflikt rund um den Staat Israel. „Wenn ich Schulleiter wäre, würde ich nicht mit meinen Kindern ins KZ fahren – ich würde ihnen den Nahostkonflikt erklären“, sagte Ranan mit Blick auf eine mögliche Antisemitismusprävention.
Begriff Antisemitismus wird politisch missbraucht
Er kritisierte auch die unscharfe Verwendung des Begriffs Antisemitismus. Es gebe in der Wissenschaft keine allgemein akzeptierte Definition. „Wahrscheinlich sollte man einfach von Judenhass sprechen“, sagte Ranan. Die Diskussion über Antisemitismus werde nicht sachlich geführt und politisch missbraucht. Das sei gefährlich. „Wenn ein großer Teil der Juden in Deutschland in Panik vor Muslimen lebt, schadet es vor allem ihnen selbst. Und diese Panik wird von jüdischer Seite geschürt.“ Studien zufolge fürchteten sich 78 Prozent der Juden in Deutschland vor muslimischer Gewalt. Tatsächliche eigene Erfahrungen damit hätten aber nur drei Prozent.
Als Beispiel für eine fragliche Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs zog Ranan den jüngst breit diskutierten Fall einer Berliner Schülerin heran. Dieser habe erst dann für Aufsehen gesorgt, als bekannt geworden sei, dass das Kind wegen seiner jüdischen Abstammung gemobbt wurde. Dabei sei sie bereits von muslimischen Schülern angegriffen worden, bevor ihre Abstammung bekannt geworden sei.
Ein muslimischer Diskriminierungsbeauftragter?
Ranan wies den Vorstoß des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, zurück, wonach antisemitische Migranten schneller abzuschieben sind. Es brauche keine extra Spielregeln für antijüdischen Hass, so Ranan. „Frau Merkel ist nicht nur die Kanzlerin der Juden in Deutschland, sondern auch der Muslime, der Schwulen, von allen Gruppen, die gehasst werden“, sagte Ranan.
Der Autor wuchs in Israel und den Niederlanden auf und publiziert unter anderem über unterschiedliche Lebenswelten von Israelis und Juden. Am Dienstag ergriff er Partei für die Muslime in Deutschland: „Es gibt sicher nicht eine Frau mit Kopftuch, die nicht mindestens einmal am Tag einen schiefen Blick erntet oder eine Gemeinheit zu hören bekommt“, sagte Ranan, und weiter: „Vielleicht wünschen Muslime sich auch einen Diskriminierungsbeaufragten.“
Von: Anna Lutz