„Wir verlieren eine komplette Generation“

Die Lage an vielen deutschen Schulen ist desaströs. Kinder ohne Migrationshintergrund gibt es mancherorts nicht mehr, Lehrer kämpfen mit radikalen Weltsichten, religiösem Extremismus und integrationsunwilligen Eltern. Wo der Staat versagt, wollen die Kirchen einen Unterschied machen. Der Glaube soll helfen, Kindern eine neue Heimat zu geben.
Von Nicolai Franz
Stephanie Kiefer leitet die Arche in Frankfurt-Griesheim

„Ich hab dich lieb“, sagt die Grundschülerin zu ihrer Lehrerin. „Aber leider gehst du ins Feuer, weil du keinen Schleier trägst.“ Die Schule bittet die Eltern zum Gespräch, sie haben keine Ahnung, woher ihre Tochter diese Einstellung hat. Von ihnen habe sie solche Gedanken nicht, beteuern sie. Sie habe sich neulich sogar noch eine Kinderbibel aus der Bücherei ausgeliehen.

Geschichten wie diese hat Ingrid König nach eigener Aussage zu Dutzenden erlebt. Jahrzehntelang leitete sie die Bertold-Otto-Grundschule in Frankfurt-Griesheim. Sie weiß nicht genau, wann sich die Situation verschlechterte, vielleicht vor zehn oder 20 Jahren. „Aber seit geraumer Zeit gibt es einen größer werdenden Teil von Familien, die patriarchalisch-autoritär erziehen, die sittenstreng ihre Herkunftsländer hochhalten – und sich entsprechend von der westlichen Wertegesellschaft abgrenzen“, schreibt König in ihrem Buch „Schule vor dem Kollaps“. Kinder aus allen Altersklassen haben blaue Flecken auf ihren Unterarmen. Der Koranlehrer in der Koranschule habe sie geschlagen, erzählen sie.

Die „Frankfurter Bronx“

Als eine Schülerin zum Geburtstag Gummibärchen ausgibt, entbrennt eine Diskussion unter den Kindern, ob die Süßigkeit wegen der Schweinegelatine „haram“, also Sünde, ist. Erst als die Lehrerin erklärt, niemand komme wegen Gummibärchen in die Hölle, beruhigen sich die Diskutanten. „Der Streit darüber, was ‚haram‘ und was ‚halal‘ ist, was der Koran erlaubt, was er verbietet, durchzieht jedenfalls den Alltag an unserer Schule“, berichtet Ingrid König. Der Anteil von „biodeutschen“ Schülern, also Deutschen ohne Migrationshintergrund, beträgt an ihrer Schule, an der sie bis zu ihrem Ruhestand in diesem Jahr arbeitete, null Prozent.

Die Pädagogin schildert katastrophale Verhältnisse. Von Kindern, die trotz eines Vorklassenjahres zur Einschulung noch kein Deutsch können, die in ihrem Leben noch nie im Wald waren, die nicht wissen, was „Gras“ bedeutet, dafür aber mit Smartphones umgehen können. In Griesheim wohnten einst vor allem Mitarbeiter der Deutschen Bahn und der Chemieindustrie. Anfang der 1990er Jahre zogen viele von ihnen weg, weil Stellen abgebaut wurden. In die leeren Wohnungen zogen Menschen, die anderswo durchs Raster fielen. Griesheim-Mitte wurde zur „Frankfurter Bronx“, Jugendbanden lieferten sich Straßenkämpfe. Der Stadtteil geriet zum Problembezirk, ohne dass die Stadt wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen hätte. Die Folgen dieser verfehlten Politik bekommt nun unter anderem die Bertold-Otto-Grundschule zu spüren.

Die Arche in Frankfurt-Griesheim Foto: pro/Nicolai Franz
Die Arche in Frankfurt-Griesheim

Manche Schüler kommen und gehen, wann sie wollen König wehrt sich entschieden gegen Ausländerfeindlichkeit und Pauschalisierungen. Nicht die ethnische Herkunft ist für sie das Problem, sondern die Umstände, in denen viele Migranten in Griesheim-Mitte leben. Und doch sieht König Unterschiede unter Migranten. Dem Thema „Islam“ widmet sie ein ganzes Kapitel. Russlanddeutsche Spätaussiedler vor 25 Jahren seien noch „geradezu integrationsverbissen“ gewesen: Die Eltern achteten auf die Kinder, sorgten dafür, dass sie anständig angezogen und satt in die Schule kamen, erkundigten sich bei Lehrern nach ihren Sprössen, und – das muss König extra betonen – stellten so gut wie keine Forderungen an die Schule.

„Danke“ und „Bitte“ sind fremd

Heute sei das anders. Die ehemalige Schulleiterin berichtet von Eltern, die nicht wissen, in welche Klasse ihre Kinder gehen, denen Höflichkeitsfloskeln wie „Danke“ und „Bitte“ fremd sind und von denen es manchen schlicht nicht wichtig zu sein scheint, dass ihre Kinder überhaupt ihrer Schulpflicht nachkommen. Das gepaart mit einem schwachen und trägen Staat ergibt eine Mischung, in denen manche Eltern in Griesheim-Mitte denken, sie könnten sich im Grunde fast alles erlauben. So erlebt es zumindest König. Ihr ist kein Fall bekannt, in dem Eltern das Sorgerecht entzogen wurde, weil sie die Schulpflicht nicht einhielten. „Zahnloser kann ein Papiertiger kaum sein.“ Die Folge sei: „Eine gar nicht mal so kleine Gruppe von Schülern kommt und geht, wann und wie sie will, sammelt Fehltage nach eigenem Belieben und dem der Eltern (…) und lernt so, dass Schule dann ja wohl nicht so wichtig ist.“ Dazu kommen Sprachbarrieren, Eltern also, die kaum ein Wort Deutsch können. Oft genug sind es deren eigene Kinder, die in Gesprächen mit Lehrern als Dolmetscher herhalten müssten. Besonders unangenehm sei es, so König, wenn Kinder den Eltern ihr eigenes Fehlverhalten übersetzten.

König fühlt sich vom Staat allein gelassen.„Wir verlieren eine komplette Generation – die Politik lässt uns im Stich.“ Das fängt bei einer guten oder wenigstens intakten Ausstattung der Unterrichtsräume an, die ein gutes Lern- und Pausenklima ermöglichen. Doch gute Ideen, so zumindest berichtet es Ingrid König, zerbröseln in den langsamen Mühlen der Bürokratie. Selbst ehrenamtliches Engagement kommt dabei unter die Räder. Als ein Sponsor ein neues, langlebiges Spielgerät stiften will, sogar die TÜV-Abnahme verspricht, bekommt König so lange keine Rückmeldungen von der zuständigen Behörde, bis der genervte Wohltäter sein Geld schließlich in ein anderes Projekt steckt.

Zwar sind Brennpunkte wie Griesheim-Mitte nicht die Regel, doch auch anderswo herrschen ähnliche Verhältnisse. Ob Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh, Offenbach, Essen-Katernberg, Hamburg-Billstedt, Harburg, Mannheim-Neckarstadt: Sie alle gelten als Problemviertel, in denen nicht nur sehr viele Migranten wohnen, sondern auch große soziale Probleme herrschen. Natürlich bedeutet ein hoher Migrantenanteil nicht automatisch Probleme. Wenn die bürgerliche Schicht allerdings weitgehend fehlt und Migranten kaum Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft haben, sind Probleme vorprogrammiert.

40.000 Lehrer fehlen

Die Lage könnte sich in den kommenden Jahren noch verschärfen. Durch die Flüchtlingskrise müssen viele Kinder integriert werden, deren Eltern nicht aus der traditionell-bürgerlichen Mittelschicht kommen und trotz mancher Anstrengungen noch Sprach-Defizite haben. König nennt auch die Inklusion, den Sparzwang und die Ignoranz vieler Politiker, die Schulen lähmen und Integration verhindern – weil weder Geld noch Personal da ist, um die massiven Herausforderungen zu meistern. Neue pädagogische Konzepte zur Integration nützen demnach nichts, wenn es zu wenige Pädagogen gibt, die sie auch umsetzen können.

Ingrid König ist mit dieser Meinung nicht alleine. Laut der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fehlen in Deutschland etwa 40.000 Lehrer. Auch eine repräsentative Forsa-Umfrage des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) nennt einen hohen Bedarf. Demnach geben die Hälfte der bundesweit befragten Schulleiter an, dass sie an ihrer Schule mit Lehrermangel und unbesetzten Stellen zu kämpfen haben. Ein Jahr zuvor waren es nur 36 Prozent. 87 Prozent der Schulleiter klagen über zu wenige Bewerber. Dabei gibt es genug junge Menschen, die an die Grundschulen gehen wollen. Das zeigen aktuelle Bewerberzahlen auf Grundschulstudiengänge. An der Goethe-Universität Frankfurt bewarben sich im Wintersemester 2018/2019 ganze 2.007 Abiturienten, doch nur 240 wurden genommen. Auch viele andere Städte beschränken Lehramtsstudiengänge mit einem Numerus Clausus. Auf der anderen Seite unterrichten immer mehr Menschen, die zuvor nicht das übliche Studium absolviert haben, wie die VBE-Umfrage ergab. Zwei Drittel der Schulleiter geben an, dass Seiteneinsteiger vor ihrer ersten Unterrichtsstunde keine systematische pädagogische Ausbildung erhalten.

Ingrid König wollte die Bertold-Otto-Schule zur Ganztagsschule mit Essens- und Betreuungsangeboten machen, damit auch Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen gute Chancen auf Bildungserfolg und Teilhabe haben. Beamte mit Notizzetteln kamen und gingen, Verbesserungen gab es keine.

Gesunder Snack: Jeden Tag schneiden die Arche-Kinder frisches Obst Foto: pro/Nicolai Franz
Gesunder Snack: Jeden Tag schneiden die Arche-Kinder frisches Obst

Bis Anfang 2009 etwas geschah, das Ingrid König „ohne Übertreibung ein Wunder“ nennt: Telefonklingeln im Sekretariat. Ein Mitglied des Freundeskreises der Arche in Frankfurt rief an und sagte, er wolle mit dem christlichen Kinderprojekt eine Einrichtung für die Bertold-Otto-Grundschule gründen. Die Idee: Eine Frühbetreuung, Mittagessen, Hausaufgabenhilfe, Spiel- und Lernmöglichkeiten, finanziert durch Spenden. Pastor Bernd Siggelkow, der Arche-Gründer, reist aus Berlin an und bringt direkt den möglichen künftigen Leiter für Griesheim-Mitte mit. Doch auch hier wirkt es anfangs so, als würde das Projekt scheitern. Räume gibt es keine. Die Stadt hat laut König kein Interesse, das Vorhaben zu unterstützen. „Unerklärlich“ nennt das die Pädagogin, und doch ist sie nicht wirklich überrascht. Die Arche bekommt am Ende zwei Betreuungsräume und zwei Kleingruppenräume – mitten in der Schule. Im Januar 2010 beginnt das Projekt.

Fasten verboten

Ortsbesuch in Griesheim-Mitte. Es ist 7.15 Uhr. Die ersten Kinder trudeln ein, Arche-Leiterin Stephanie Kiefer kennt sie alle mit Namen. Im Arche-Café erwartet die Grundschüler ein Frühstücksbuffett: Müsli, Brötchen, Gurkenscheiben und Tomaten, Käse und Wurst – natürlich nicht vom Schwein, das wäre angesichts von etwa 80 Prozent Muslimen ebenso provokant wie sinnlos. Zwei Betreuerinnen sitzen mit zwei jungen Frühaufsteherinnen vor gefüllten Tellern. Das Tischgebet rappen sie mit den Kindern: „Für mich und für dich ist der Tisch gedeckt, hab Dank, lieber Gott, dass es uns gut schmeckt – Aaaamen.“ Es ist einer der wenigen Momente im Verlauf dieses Tages, in denen der christliche Glaube der Arche-Mitarbeiter unmittelbar sichtbar wird. Und doch spielen Religion, Herkunft und Kultur ständig eine Rolle, sie sind Teil der Gespräche, der Kennenlernfragen und Diskussion. Es ist Ramadan, als pro die Arche besucht, aber keines der Kinder fastet. Die Fastenpflicht gilt schließlich erst ab der Pubertät, sagt Stephanie, die wie alle anderen Arche-Mitarbeiter geduzt wird. Kinder, die trotzdem fasten, dürfen die Schule gar nicht erst besuchen. Die Leitung könne es nicht verantworten, wenn ein Kind wegen Nahrungsmangel ohnmächtig werde, heißt es. Die Eltern scheinen sich daran zu halten.

„Woher kommst du?“, fragen die Kinder den Reporter. Die Antwort, dass er „aus der Gegend“ kommt, irritiert sie. „Ich meine, woher kommst du wirklich?“ Die dann folgende, etwas verdruckste Antwort „aus Deutschland“ überrascht die Kinder noch mehr. „Achso, du bist Deutscher!“ Aus 27 Nationen kommen die 120 Arche-Kinder, täglich verteilen die Mitarbeiter 90 Essensportionen. Angemeldet sind 170, das ist genau die Hälfte aller Kinder der Bertold-Otto-Grundschule. Auf den bunt bemalten Spinden stehen ihre Namen. Deutsch klingende sind nicht darunter. Immer mehr Kinder kommen ins Arche-Café, erzählen sich die neuesten Geschichten, scherzen und albern herum. Die Klassenfahrt zum Ponyhof war nicht so gut, erzählen die Mädchen aus der dritten Klasse, viele hätten abends wegen Heimweh geweint. Ein Kind ist vom Pferd gefallen. Ganz normale Kinder also? Wer es nicht besser wüsste, würde hier kaum einen sozialen Brennpunkt vermuten. Doch hinter der Fassade sieht es oft anders aus, wissen die Pädagogen.

Die Frage danach, wie Integration gelingen kann, beschäftigt auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Im Herbst vergangenen Jahres veröffentlichte sie einen Vorschlag, der Schulkindern mit Migrationshintergrund zu mehr Teilhabe verhelfen und so auch Lehrer langfristig entlasten soll – und dabei spielt Religion eine maßgebliche Rolle. Glaubensfragen, so fordern es die Protestanten, sollen fester Bestandteil des Unterrichts werden, auch außerhalb des Fachs Religion. Denn Lehrer, so heißt es in dem Papier. machten vermehrt die Erfahrung, dass religiöse Fragen auch im Biologieunterricht, in der politischen Bildung, im Geschichtsunterricht und in der Gesundheitserziehung oder auch bei Konflikten auf dem Pausenhof eine Rolle spielen. In der Tat ist gut vorstellbar, dass Schüler, die etwa aus Syrien, Afghanistan, dem Iran oder dem Irak nach Deutschland kommen, die in ihrer Heimat für sie prägenden religiösen Erfahrungen nicht an der Grenze abgeben. Ihre Herkunftsländer sind von Religion durchsetzt. In der Bundesrepublik aber erwarten Staat und Lehrer plötzlich, dass sich ihr religiöses Denken auf dafür vorgesehene Bereiche beschränken soll. Wie könnte ein Kind, das in einem Gottesstaat aufwuchs, verstehen, dass Gott bei der Frage nach dem richtigen Rechtssystem, der demokratischen Staatsform, im Sexualkundeunterricht oder beim Schlichten von Streit im säkularen Deutschland keine Rolle spielen soll?

Interreligiöser Unterricht als Lösung?

Bei einem Pressetermin der Kirche im Januar erläuterte der stellvertretende Schulleiter des Evangelischen Gymnasiums Nordhorn, Christoph Gastler, das Konzept. Er berichtete davon, wie seine Schule der zunehmenden Zuwanderung nach 2015 begegnet ist: „Wir haben entschieden, niemand soll verloren gehen“, sagte er mit Blick auf die Schüler. Sprache allein reiche nicht aus, um Integration zu ermöglichen. An seiner Schule werde etwa darüber gesprochen, wie die Schüler ihren Glauben in der Familie leben. Es gebe spezielle Unterrichtseinheiten zu Antisemitismus und jüdischem Leben in Nordhorn. Die Erfahrungen damit sind nicht nur positiv. Zwar berichtete Gastler von einer „prägenden Begegnung“ muslimischer Schüler mit einer israelischen Schülergruppe oder lebhaften Diskussionen über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland. Doch es gebe auch „verbale und handgreifliche Auseinandersetzungen“ zwischen zugewanderten Muslimen und Christen. Manche Schüler seien überdies nicht dazu bereit gewesen, an einem Treffen mit Juden teilzunehmen, erinnerte sich eine weitere Mitarbeiterin der Schule.

Das ist vor allen Dingen ein Argument für eine intensivere Auseinandersetzung mit Religion und Vielfalt. Religiöse Bildung, so schreiben es die Protestanten in ihrem Papier, werde in der Integrationsdebatte bislang vernachlässigt, sei aber eine Notwendigkeit. Religion müsse ernst genommen werden. Nur dann erhielten Schüler die Chance, die eigenen Biografien und religiösen Erfahrungen auch zu hinterfragen und zu reflektieren. Anstelle eines Ethikunterrichts will die Kirche deshalb einen interreligiösen Religionsunterricht setzen, religiöse Rituale will sie in den Schulalltag integrieren und multireligiöse Schulfeiern anbieten. pro hat sich in der Recherche zu diesem Thema über Wochen bemüht, eine evangelische Schule zu finden, die dies bereits umsetzt – vergeblich. Entweder, das Vorhaben braucht schlicht noch Zeit. Oder aber, die Umsetzung fällt selbst denen, die offensichtlich bemüht sind, Religion positiv zur Integration zu nutzen, schwer.

Die Arche hat einen anderen Ansatz: Sie missioniert nicht, auch wenn ihre Mitarbeiter tiefgläubig sind. Ihr Glaube ist nicht das Instrument, mit dem sie benachteiligten Kindern helfen, wohl aber ein wichtiger Antrieb.

Es ist 9.15 Uhr. Die Arche-Kinder der Bertold-Otto-Schule sind in ihren Klassenräumen verschwunden. Stephanie und ihre Mitarbeiter Thomy, Henny und Hannah sitzen auf einer alten blau-orangefarbenen Kunstledercouch und nutzen die Stille für eine Teambesprechung. Gemälde von Kindern zieren den Raum. Eines sucht mit einer Zeichnung sein entlaufenes Kaninchen, daneben ein weinendes Herz: „Wer in findet bekomt 1 Euro“. Auch Bilder biblischer Geschichten hängen an der Wand: Die vom starken Simson, von Baby Mose im Schilfkorb, und natürlich die von der Arche sind dabei. Montags tauschen sich die Mitarbeiter intensiver aus, berichten auch davon, was sie am Wochenende geistlich beschäftigt hat.

Thomy, ein sportlicher junger Typ, erzählt von einer Wanderung mit Freunden, vom gemeinsamen Gebet, wie wichtig es ist, die Nähe zu Gott zu suchen. Für ein paar Minuten herrscht Hauskreisatmosphäre. Dann kommen die Sachthemen zur Sprache: Bekommt ein Kind auch dann einen Belohnungspunkt, wenn es nur gelesen, aber keine Hausaufgaben gemacht hat? Wer könnte sich über Freikarten für das Tischtennis-Finale freuen? Thomy hat mitbekommen, wie sich Viertklässler Pornobilder per Whatsapp zuschicken. Sollen die Eltern informiert werden? Was, wenn sie die Hinweise ignorieren? Lange Zeit sprechen die Arche-Mitarbeiter über einen einzigen Jungen. Er ist aggressiv, hält sich nicht an Regeln, ist kaum zu bändigen, lässt sich auch von Verboten nicht beeindrucken. Die Mitarbeiter beschließen, behutsam Kontakt zwischen Eltern und Jugendamt herzustellen, damit ihm geholfen werden kann. Das ist gar nicht leicht: Vielen Eltern gilt das Jugendamt als Einrichtung, die ihnen in erster Linie ihre Kinder wegnimmt.

Ingrid König leitete die Bertold-Otto-Grundschule in Frankfurt-Griesheim Foto: M. Dolovac
Ingrid König leitete die Bertold-Otto-Grundschule in Frankfurt-Griesheim

Aber auch bei den Gesprächen mit Eltern der weniger verhaltensauffälligen Kinder prallen oft Welten aufeinander. Stephanie nimmt bei vielen Kindern einen Identitätskonflikt wahr: Zuhause versuchen sie, der Kultur ihrer Eltern zu folgen, in der Arche und der Schule verhalten sie sich entsprechend anders. Sie stünden permanent unter Druck. Deswegen ist es für sie wichtig, jedes Kind anzunehmen und ihm keinen Stempel aufzudrücken. In die Arche passen alle Kinder hinein, um sie durch die Stürme zu bringen, sagt Stephanie. „Jesus war sich für niemanden zu schade und hat bei jedem Potenzial gesehen. Seine Jünger hat er nicht nach irgendwelchen Leistungsmerkmalen ausgesucht, sondern einfach den Menschen gesehen. Das tun wir auch.“

Und doch sieht sie auch Grenzen der Toleranz. Wer hier lebe, solle „ein bejahendes Verständnis zu unserer Lebensweise haben“ – und natürlich Deutsch können. Viele Migranten hätten Schwierigkeiten mit den vielen Freiheiten, die in Deutschland, aber nicht in ihren Heimatländern gelten.

Mehr Religion in der Schule, nicht weniger

Der Journalist Constantin Schreiber hat als Korrespondent der Deutschen Welle in Dubai gelebt, war Medienberater für den Nahen Osten im Auswärtigen Amt. 2017 erschien sein Buch „Inside Islam – Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“ und in diesem Jahr ein weiteres Werk: „Kinder des Koran“. Für letzteres hat er Schulbücher in arabischen Ländern untersucht und festgestellt: Sie sind durchzogen von autoritären Gottesbildern, Antisemitismus und politischer Propaganda. Was das mit der Situation an deutschen Schulen zu tun hat, erklärt er im Gespräch mit pro: Einwanderer brächten genau diesen gesellschaftlichen Mainstream mit nach Europa. „Natürlich bekommen Einwanderer auch europäischen Einfluss mit. Aber sie kappen selbstverständlich nicht jedes Band zu ihrer Kultur. Sie sind dadurch geprägt, konsumieren vielleicht weiterhin Medien aus ihrer Heimat oder reden mit ihren Familien über Glauben und Werte“, sagt Schreiber.

Aus diesem Grund plädiert er nicht für weniger Religion an deutschen Schulen, sondern für mehr davon, etwa im Sexualkundeunterricht: „In vielen Klassen gibt es heute eine große Zahl an Schülern mit muslimischem Hintergrund, die einen Sexualkundeunterricht per se ablehnen und boykottieren. Das ist ihre Prägung und die basiert auf religiösen Werten. Deshalb finde ich, dass man Religion in den Sexualkundeunterricht hineinnehmen muss, es also zum Thema machen, wie der Koran zu Sexualität steht. So kann man eine Diskussion beginnen.“ In seinem Buch denkt er zudem darüber nach, ob ein deutschlandweiter Werteunterricht als Pflichtfach helfen könnte, „um problematische Weltbilder zu verändern“.

Die ehemalige Grundschulleiterin Ingrid König kennt solche Vorhaben, und sie hält nichts von ihnen. Werteunterricht gebe es doch schon: Ethik, Religion, Deutsch, Politik und Wirtschaft, Geschichte. Stattdessen plädiert sie dafür, klar zu benennen, welche Werte denn genau an einer Schule gelebt werden sollen. „Wir müssen darüber nachdenken, was Höflichkeit, Respekt, Toleranz, Disziplin, Anstrengungsbereitschaft, Fleiß und Frustrationstoleranz in der heutigen Zeit bedeuten können, bedeuten müssen.“ König lobt die Integrationsarbeit der Arche in höchsten Tönen, sie stellt einen „positiven Einfluss auf das Lernverhalten und die Entwicklung der Kinder“ fest.

Christliche Werte vorleben

In der Mittagszeit strömen die Kinder wieder in die Arche. Es gibt Spätzle und Hühnchen in Rahmsoße. Im Nebenraum spielen die Kinder Jenga, Halli Galli, zwei Kinder lernen von Stephanie Schach. Für manche ist die Arche eine Art Familienersatz, mit allem, was dazu gehört. Ein Junge beschwert sich, dass sein Kumpel ihn wegen seiner Hautfarbe als „Karamellgesicht“ bezeichnet hat. „Dafür nennst du mich immer Hot Chocolate“, entgegnet der dunkelhäutige Freund. Integrationsarbeit bedeutet in der Arche nicht die abstrakte Vermittlung demokratischer oder westlicher Verhaltensnormen, sondern praktische Hilfe, Nächstenliebe und das Vorleben christlicher Werte. Neben den Arche-Angeboten in der Schulzeit gibt es auch Camps, christliche Freizeiten. Dort singen die Kinder christliche Lieder und hören biblische Geschichten. Die überwiegend muslimischen Eltern wissen das, haben aber kein Problem damit, sagt Stephanie. Auf dem Laptop läuft ein Video vom letzten Camp: „Petrus: Fischer, Verräter, Held“. Es zeigt einen Petrus, der mit anderen Jüngern in einem Schlauchboot auf dem See Genezareth schippert, Jesus begegnet, ihn schließlich verrät. Ein Kind hält Schilder hoch, auf denen „Doch!“ oder „Krass“ stehen. Das Publikum aus Arche-Kindern grölt engagiert mit.

Viele Kinder sagen im Gespräch, wie gerne sie in die Arche gehen. Einer von ihnen ist Mohamed. Am besten gefallen ihm die Camps. Wegen der Spiele oder des Essens? „Weil wir da Geschichten von Jesus hören“, sagt er.

Von: Nicolai Franz und Anna Lutz

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