„Wir entlassen digitale Analphabeten ins Leben“

Der eine wünscht sich, dass Kinder schon im Kindergarten programmieren lernen. Der andere sieht digitale Medien in diesem Alter als Tabu an. Über die Auswirkungen des Medienkonsums auf Kinder diskutieren der Unternehmer Frank Thelen und der Jugendpsychiater Michael Winterhoff im Stern-Streitgespräch.
Von Johannes Blöcher-Weil
Immer wieder Streitthema: der frühe Medienkonsum von Kindern und seine Folgen

Der Unternehmer Frank Thelen fordert im Wochenmagazin „Stern“ einen radikalen Umbau des Schulsystems. Dort streitet er mit dem Psychiater Michael Winterhoff. Während Thelen findet, dass der richtige und kreative Einsatz von Smartphones und Tablets „magische Dinge bewegen kann“, hält Winterhoff solche Digitalvisionen für unnötig.

Thelen befürchtet, dass Deutschland in Zukunft von allen anderen Ländern technisch abgehängt wird, wenn es nicht gegensteuert. Ohne Paradigmenwechsel produzierten die deutschen Schulen digitale Analphabeten. Winterhoff glaubt dagegen, dass „Tablets unsere Kinder verdummen“. Auch seien die Kinder psychisch nicht mehr so reif, wie sie es vom Alter her sein müssten, sowohl beim Besuch des Kindergarten und der Schule als auch zu Beginn ihrer Ausbildung.

Eltern entlassen ihre Kinder in digitale Parallelwelten

Kinder müssten lernen, sich selbst zu bewegen, ihre Motorik und Koordination einzuüben. Dabei irritierten digitale Medien nur: „Kinder brauchen Ruhe, sie müssen die Welt mit allen Sinnesorganen erfahren und entdecken.“ Stattdessen würden viele von ihren Eltern in digitale Parallelwelten entlassen. Aus Winterhoffs Sicht hätten auch die Gründer von Google und Facebook ihre Firmen ohne voll digitalisierte Schulen entwickelt.

Thelen äußert seine Bedenken, dass Lehrer häufig keine Lust auf technische Innovationen hätten. Neben einer Modernisierung von Schulen sei auch eine bessere Ausbildung und Bezahlung der Lehrer unabdingbar. „Die Kinder, die heute die Schule verlassen, werden die Wucht der Digitalisierung in ihrem Berufsleben sehr früh spüren.“ Winterhoff dagegen warnt davor, Autisten und Narzissten heranzuziehen. „Das Ergebnis der Schule, die Sie wollen, sind lebensuntüchtige Menschen. Beziehungslos, verdummt, nicht arbeitsfähig, verarmt.“

Lehrer und Erzieher müssen Ahnung von Persönlichkeitsentwicklung haben

Vor allem aber seien es die Beziehungen, die das Leben ausmachten. Dies müsse Schule fördern und dafür bedürfe es ausgebildeter Lehrer und Erzieher, die „Ahnung von Persönlichkeitsentwicklung haben“, auch weil viele Eltern von der digitalen Revolution überrollt worden seien. Für die Herausforderungen der kommenden Jahre fordert der Unternehmer Thelen ein Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik.

Thelen findet es alarmierend, dass zwei Experten unterschiedlicher Fachgebiete eine solch alarmierende Problemanzeige machten: „Wir sind beide entsetzt und schreien laut.“ Die Ansatzpunkte, um dem zu begegnen, könnten unterschiedlicher nicht sein: Thelen fordert, dass Kinder schon ab dem Kindergarten programmieren lernen könnte. Winterhoff möchte auf radikale Veränderungen in den Schulen verzichten. Aus seiner Sicht brauche es einen höheren Erzieherschlüssel, Ausbildungen im Bereich Persönlichkeitsentwicklung und keine Tablets in Grundschule und Kindergärten, damit das Hirn der Kinder nicht ständig „zugemüllt“ werde.

Von: Johannes Weil

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