Nicht ohne unsere Wurzeln

Millionen Migranten kommen derzeit nach Deutschland und Europa. Sie bringen ihre Kultur und Werte mit. Das stellt unsere Gesellschaft vor Fragen: Wer sind wir? Was macht uns aus? Worauf beruhen unsere Werte? Zeit für eine Rückbesinnung, statt in Panik zu verfallen.
Von PRO
Der Kölner Dom ist ein Inbegriff für den Glauben und die Kultur, die unsere Gesellschaft geprägt haben
Das Jahr 2016 begann mit einem Paukenschlag. Die Ereignisse zu Silvester in Köln und anderen Städten – sexuelle Übergriffe, Gewalt und Diebstahl, an denen vorwiegend Männer nordafrikanischer Herkunft beteiligt waren – sowie die anschließende Debatte darüber haben mit einiger Wucht gezeigt: Migranten im Allgemeinen und Flüchtlinge im Besonderen werden Deutschland und Europa auch in diesem Jahr weiterhin und verstärkt beschäftigen – und das vor dem Hintergrund ihrer Kultur und „unserer“ Werte. Die öffentliche Auseinandersetzung darüber ist polarisiert, sie hat in weiten Teilen an Sachlichkeit und Rationalität verloren, nimmt zuweilen hysterische Züge an. An der Diskussion über die Silvesterereignisse zeigt sich das beispielhaft: Die einen schlugen sogleich Alarm, verurteilten die Migrationspolitik der Bundesregierung, oder verglichen die Übergriffe mit den rechtlosen Zuständen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Die anderen verwahrten sich dagegen, eine Erklärung für die Ereignisse auch im kulturellen Hintergrund der Täter zu suchen, betonten, dass auch deutsche Männer sexuelle Gewalt an Frauen ausübten, und zogen mit Verweis auf allerdings falsche und weit übertriebene Zahlen Vergewaltigungen während der Oktoberfeste als Beleg dafür heran. Medien gerieten unter Beschuss, weil sie zum Teil zu spät reagierten, der Vorwurf der Vertuschung wurde gegenüber Politik, Polizei und Journalisten laut, die Parole „Lügenpresse“ erhielt neues Futter. Fakten, Vorurteile und Vermutungen gerieten in ein undurchsichtiges Gemenge. Das war zudem fruchtbarer Boden für gezielt manipulierte Informationen.

Die Hoffnung sinkt

Die Art und Weise, wie diese Debatte geführt wird, gibt die Stimmungslage der Gesellschaft wieder. „Willkommen im Panikland“ lautete der Titel eines Artikels von Zeit Online. Die Panik mancher ist Ausdruck eines tiefer liegenden Gefühls von Angst und Verunsicherung. Angst vor männlichen muslimischen Migranten; Angst, jemanden zu diskriminieren; Angst, Vorurteile zu schüren; Angst, aufgrund seiner Meinung als „rechts“ gebrandmarkt zu werden; Angst vor Populisten; Angst, seinen Job als Politiker zu verlieren; Angst, mögliche Fehleinschätzungen zuzugeben; Angst vor der Veränderung unserer Gesellschaft und der Ungewissheit, wie es mit unserem Land weitergehen wird. Weniger als die Hälfte, 41 Prozent, der deutschen Bevölkerung ging mit Hoffnungen in das Jahr 2016. Das ergab eine Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach. Weniger waren es zuletzt vor sechs Jahren während der Finanzkrise, als nur ein Drittel der Bevölkerung angab, hoffnungsvoll ins Jahr zu starten. Im vergangenen Jahr waren es 56 Prozent. Dafür ist der Anteil derer, die die gegenwärtige Zeit als „besonders unsicher“ wahrnehmen, auf 58 Prozent gestiegen. Ende November 2012 waren es noch 48 Prozent. „Anscheinend haben viele das Gefühl, die Orientierung, den Halt zu verlieren“, resümieren die Forscher. Häufig ist in dem Zusammenhang auch die Sorge zu vernehmen, dass Deutschland seine Identität, seine Werte verliere, wenn immer mehr Menschen mit anderem kulturellen, vorwiegend islamischem Hintergrund hierher kommen.

Werte müssen gelebt werden

Angst und Unsicherheit verleiten dazu, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu geben. Sie können sich mit Hass vermengen – über 1.000 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im vergangenen Jahr sprechen eine deutliche Sprache, genauso wie Angriffe auf Politiker und Journalisten. Und sie können zu Resignation und Abgrenzung führen. Doch wenn wir wollen, dass die Menschen, die hierher kommen und wahrscheinlich nicht sofort wieder gehen werden, unsere Werte akzeptieren und sie bestenfalls auch leben, dann müssen wir ihnen auch die Chance dazu geben. Sich abzugrenzen und Feindbilder zu pflegen, führt nicht weiter – genausowenig, wie sich hinter vermeintlicher Toleranz zu verstecken und die eigenen Werte zu verleugnen. Zum einen müssen wir uns als Einzelne wie als Gesellschaft klar machen, für welche Werte wir stehen, worauf unser moralischer Kompass beruht. Zum anderen gilt es, dafür auch einzustehen und sie mit Leben zu füllen. Wie sonst sollen Menschen, die zu uns kommen, davon erfahren? Freiheit des Individuums, Gleichberechtigung, die Würde des Menschen, Demokratie, Nächstenliebe, Solidarität, Toleranz gegenüber anderen Meinungen, Religionen und Lebensstilen. Das sind Werte, die „im Westen“ großgeschrieben werden. Aber sie bleiben abstrakt, wenn wir sie nicht sichtbar machen. Welche Relevanz haben sie tatsächlich im alltäglichen Miteinander? Wohl kaum jemand wird sie grundsätzlich anzweifeln. Doch wie demokratisch ist zum Beispiel ein Land, wenn in manchen Bundesländern gerade mal die Hälfte der Bürger zur Wahl geht? Wenn sich etablierte Parteien weigern, öffentlich mit Vertretern der AfD zu diskutieren, die derzeit laut Umfragen in der Wählergunst an dritter Stelle liegt? Was sagt es über die Toleranz in einer Gesellschaft aus, wenn bestimmte Meinungen mit dem Etikett „-phob“ oder „rechts“ stigmatisiert und damit aus der Debatte gedrängt werden? Welches Bild vom Verhältnis der Geschlechter vermittelt es, wenn Werbungen die sexuellen Reize von Frauen inszenieren, um Aufmerksamkeit zu wecken? Wo bleiben die Würde des Menschen und die Nächstenliebe, wenn Kommentarspalten auf Internetseiten aufgrund der beleidigenden Diskussionskultur gesperrt werden müssen? Wenn selbst Christen über den Glauben des anderen urteilen, weil der eine abweichende theologische Position vertritt? Welche Erfahrungen machen christliche Flüchtlinge in Deutschland mit Religionsfreiheit, wenn sie in ihren Unterkünften wegen ihres Glaubens von Muslimen verprügelt werden? Und was lernen die Schläger daraus, wenn Behörden dies tolerieren? Was hat es mit Toleranz zu tun, wenn man traditionsreichen christlichen Festen weltanschaulich neutrale Namen gibt, um Andersgläubige nicht zu irritieren? Als der iranische Präsident Hassan Rohani Ende Januar in Italien weilte, um Wirtschaftsverträge abzuschließen, verhüllte man in den Kapitolinischen Museen in Rom antike Statuen, weil sie nackte Figuren zeigen – aus Rücksicht auf den Glauben des Gastes. Dieser Fall ist symptomatisch dafür, wie Europa seine Herkunft, seine Kultur, seine Werte geradezu im Wortsinne versteckt. So kann es nicht erwarten, von Muslimen ernst genommen zu werden, denen ihr Glaube wichtig und etwas Selbstverständliches ist. Nach Terroranschlägen behaupten wir großspurig und trotzig, für unsere Werte kämpfen zu wollen. Aber wenn Menschen friedlich zu uns kommen, verleugnen wir unsere Wurzeln. Was ist das für ein Werteverständnis?

Viele Kirchen, wenig Glaube

Als Angela Merkel bei ihrem Besuch in der Schweiz im vergangenen September gefragt wurde, wie sie Europa vor der Islamisierung schützen möchte, sagte sie unter anderem: „Haben wir doch bitteschön auch die Tradition, mal wieder in den Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein.“ Dafür wurde sie kritisiert, weil Kirchgang und Bibellesen ja nicht das politische Handeln ersetzten. Das ist richtig. Dennoch hat die Bundeskanzlerin damit einen wichtigen Punkt angesprochen: Es tut Not, dass sich die deutsche und europäische Gesellschaft wieder auf ihre Wurzeln besinnt, auf die Grundlagen, auf denen unsere Werte beruhen. Und das Christentum ist dabei eine ganz maßgebliche Größe. Nur ist das aus dem öffentlichen Bewusstsein fast verschwunden. In einer umfassenden Studie zur Flüchtlingssituation in Deutschland hält die Roland-Berger-Stiftung fest: „Das weitgehende Fehlen von Religiosität im Alltag der Deutschen steht für die Neuankömmlinge in seltsamem Kontrast zu den zahlreichen wuchtigen Kirchenbauten, die ihren ersten Eindruck von Deutschland mitprägen.“ Ein Großteil der Migranten, die aktuell nach Deutschland kommen, sind religiös. Hier treffen sie jedoch weitgehend auf ein religiöses Vakuum. Es ist kein Wunder, dass manche Einheimische dem Islam eine vermeintliche Stärke zuschreiben, die sie dem Christentum nicht mehr zutrauen, auch wenn Muslime in Deutschland noch deutlich in der Minderheit sind. Die Roland-Berger-Stiftung schlussfolgert aus ihrer Beobachtung, dass gerade Christen eine Brücke zu Flüchtlingen bauen können: „Wir halten es für notwendig, dass die beiden christlichen Kirchen Flüchtlingen bewusst ihre Türen öffnen und ihnen zeigen, dass unsere Kultur, unser Werteverständnis seine Wurzeln in der christlichen Lehre hat.“ Wer weiß, wer er ist und woher er kommt, kann auch dem Fremden angstfrei und selbstbewusst begegnen. Wer tiefe Wurzeln hat, braucht den Sturm nicht zu fürchten.

Melodien des Friedens hörbar machen

Es ist richtig und notwendig, von Migranten einzufordern, sich den Gepflogenheiten des Gastlandes anzupassen. Dazu müssen sie aber auch eine Chance bekommen, sie kennenzulernen. Die haben sie kaum, wenn es keine Begegnung zwischen ihnen und der hier lebenden Bevölkerung gibt. Ein Flüchtling aus Eritrea beklagte sich kürzlich: In den zwei Jahren, in denen er in Deutschland auf den Bescheid vom Bundesamt für Flüchtlinge und Migration bezüglich seines Asylantrages wartete, hat er gerade mal eine handvoll Deutscher persönlich kennengelernt. „Ich will ja lernen, was die Regeln hier sind, aber ich kenne fast niemanden.“ Sein Leben spielte sich vor allem in der Gemeinschaftsunterkunft mit anderen Eritreern ab, er hatte kaum Möglichkeiten, Alltagserfahrungen mit deutscher Sprache und Leben zu machen. Christen haben eine doppelte Aufgabe. Sie können dazu beitragen, dass christlicher Glaube wieder stärker ins Bewusstsein unserer säkularisierten Gesellschaft dringt. Und sie können dabei helfen, dass Migranten erfahren und erleben, was christliche, was europäische oder auch universelle Werte sind. „Auf die eine oder andere Weise begegnet uns in vielen Kulturen die Goldene Regel, nach der wir andere Menschen so behandeln sollen, wie wir auch von ihnen behandelt zu werden hoffen“, sagte der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, Anfang dieses Jahres. Auf diesen Grundsatz hat auch Jesus hingewiesen (Matthäus 7,12). Ob es gelingt, mehrere Millionen Migranten mit ganz anderen kulturellen Hintergründen in unserer Gesellschaft zu integrieren, lässt sich schwer beantworten. Hier sind Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gleichermaßen gefordert. Bevor die Bundesregierung entschied, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, hat sie sich diese Frage anscheinend nicht gestellt. Die Ereignisse zu Silvester haben den Eindruck erweckt oder verstärkt, dass die Regierung und Behörden der Lage nicht mehr Herr sind. Es ist nicht auszuschließen, dass es in Deutschland deswegen zu Konflikten kommt. Das bereitet auch Angst und Sorgen. Umso wichtiger ist es, mitzuhelfen, dass die Situation nicht eskaliert. Gerade Christen können im Stimmengewirr der Argumente und Polemiken die Melodien hörbar machen, die zum Frieden und zum Miteinander mahnen. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und Besonnenheit. (pro)

Dieser Artikel ist der Ausgabe 1/2016 des Christlichen Medienmagazins pro entnommen. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441 915 151 oder online.

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