„Neue Vielstimmigkeit“ in den USA

Seit Jahren beschäftigt sich die New Yorker Wissenschaftlerin Marcia Pally mit den "neuen Evangelikalen", die zum politisch linken Spektrum tendieren und mehr Heterogenität in die christliche Szene Amerikas bringen. "Die Zeit" druckt in ihrer aktuellen Ausgabe einen ganzseitigen Beitrag der Autorin.
Von PRO

"Sie traten auf als Kreationisten und eifernde Schwulenfeinde. Kurz: Es schien sich beim evangelikalen Christentum um eine Mischung aus Fundamentalismus und Dummheit zu handeln", heißt es zu Beginn von Pallys Text, der in der aktuellen Ausgabe der "Zeit" abgedruckt ist. In den letzten sechs Jahren habe es jedoch einen gigantischen Umbruch der religiös-politischen Landschaft in den USA gegeben: Die "Neuen Evangelikalen" hätten sich von der "Religiösen Rechten" abgewandt und sich für antimilitaristische, konsumkritische Thesen sowie für Armenhilfe und Umweltschutz geöffnet. "Zwar ist die religiöse Rechte nicht von der Bildfläche verschwunden", bedauert Pally, "Doch wo zuvor eine einstimmige Bewegung zu sein schien, herrscht nun Vielstimmigkeit."

Die Wissenschaftlerin gibt in ihrem Text einen kurzen Überblick über die Geschichte der evangelikalen Bewegung in den USA, die zweimal eine "konservative Wende" vollzogen habe – eine davon in den 1960er Jahren als Reaktion auf die "von ihnen so empfundene moralische Feigheit in der Außenpolitik". Die Evangelikalen hätten sich von "linken Antikriegsprotesten und der mangelnden Bereitschaft, den Kommunismus zu bekämpfen", provoziert gefühlt. Als dann auch noch die "grellen Hippies" dazukamen, hätten sich die Evangelikalen vollends den Republikanern angeschlossen.

Kirche wirbt mit Transsexuellem

Pally zählt in ihrem Beitrag Personen und Gemeinden auf, die sie unter den "neuen Evangelikalen" verortet. Dazu gehört Robert Andrescik, PR-Chef einer Megakirche in den Südstaaten: "In seinem Büro sieht man kein Kreuz, dafür ein großes Obama-Poster." Andresciks Kirche gebe anderthalb Millionen US-Dollar pro Jahr für Projekte zur "sozialen Gerechtigkeit" aus. Neu-Evangelikale Tendenzen seien in allen Teilen der USA zu finden: "Eine Megakirche im Mittleren Westen präsentiert in ihrem Willkommensfilm als eines der ersten Mitglieder einen Transsexuellen." Die Kirche, erklärt Pally, sei stolz auf Essen- und Kleiderspenden, Altenfürsorge und Gefängnisseelsorge – wobei auch Kirchen, die Pally nicht zu den "neuen evangelikalen" rechnen würde, sich in solchen Projekten engagieren.

Die "neuevangelikalen Aktivitäten" seien durch drei zentrale Merkmale gekennzeichnet: erstens die Befürwortung der Trennung von Kirche und Staat, zweitens Volksbildung, Lobby-Arbeit und Koalitionsgespräche sowie drittens Kritik an der Regierung. Aus diesen drei Beweggründen heraus, schreibt Pally, engagierten sich Amerikas neue Evangelikale lebhaft für "soziale und wirtschaftliche Belange". Sie führt das Hilfswerk "World Vision" an, das 100 Millionen Menschen pro Jahr mit insgesamt 2,6 Milliarden Dollar unterstütze. Private Spenden dazu kämen von 4,7 Millionen Amerikanern, allein das Mikrokreditprogramm der Organisation fördere über 440.000 Projekte in 46 Entwicklungsländern. Den Autor und Aktivist Shane Claiborne aus Philadelphia nennt sie den "Elvis der jüngeren Evangelikalen", gleich zweimal rechnet sie Saddleback-Pastor Rick Warren zu der Bewegung. Während Pally die Kritik der "neuen Evangelikalen" an der Regierung von Ex-Präsident George W. Bush begeistert aufgreift, verschweigt sie, dass Warren Bush 2009 mit der "Internationalen Medaille des Friedens" für sein Engagement gegen AIDS auszeichnete.

Abtreibungsfrage bindet Evangelikale an Republikaner

"Die neuen Evangelikalen heute sind sind natürlich immer noch evangelikal. Sie betonen aus ihrem Glauben heraus einen antiautoritären, staatsskeptischen, eigenverantwortlichen Aktivismus", erklärt Pally. Doch der habe inzwischen ein breites Spektrum an Zielen, seit den 1960er Jahren habe sich ja der Umgang mit Sexualität ebenso gewandelt wie das Verhältnis zur Umwelt und die Mittel globaler Vernetzung. Vielen Jungen erscheine die "religiöse Rechte" realitätsfremd. Viele "neue Evangelikale" stünden bei Wahlen vor einem Dilemma: "Wegen ihrer Abtreibungsfeindlichkeit beispielsweise neigen sie den Republikanern zu, während der Umweltschutz ein demokratisches Thema ist", so Pally. 2008 hätten acht Prozent aller weißen und 30 Prozent der unter 30-jährigen Evangelikalen für Barack Obama gestimmt. Bei den Kongresswahlen 2010 wählten diese aber zu 75 Prozent die Republikaner.

Bei der Präsidentschaftswahl 2012, prognostiziert die Wissenschaftlerin, werden die meisten Evangelikalen aufgrund ihrer Haltung zur Abtreibung und ihrer Selbstverantwortungsethik  die Republikaner wählen. Pally sieht nur eine Chance, diesen Trend langfristig zu ändern: "Wenn Evangelikale, Säkulare und Feministinnen gemeinsam für eine Senkung der Abtreibungszahlen stritten, dann könnte sich die Polarisierung eines langen Kulturkampfes entschärfen", hofft sie, denn: "Ohne das Thema Abtreibung als Wählerkitt verlören die Republikaner womöglich einen Teil ihrer Basis." Ein frommer Wunsch Pallys, aber: Die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens einer solchen Allianz aus Evangelikalen, Säkularen und Feministinnen darf man wohl als gering bezeichnen.

Wer der republikanische Präsidentschaftsbewerber wird, entscheidet sich 2012 in einem mehrmonatigen Vorwahlprozess. Einen idealen Präsidentschaftskandidaten für die Evangelikalen, schreibt Pally, gebe es derzeit nicht. (pro)

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