Nadia Bolz-Webers fragwürdiges Argument für Abtreibung

US-Pastorin Nadia Bolz-Weber ist bekannt für ihren offenen Umgang mit dem Thema Sex und ihre Bemühungen um die Inklusion von LGBTI-Menschen in Gemeinden. In einem neuen Buch fordert sie eine sexuelle Reformation - dazu zählt für sie auch der fromme Umgang mit dem Thema Abtreibung. Ihre theologische Erklärung dazu wirft Fragen auf. Ein Kommentar von Anna Lutz und Nicolai Franz
Von Anna Lutz
Nadia Bolz Weber hat in Denver das „House for all Sinners and Saints" geleitet, eine Gemeinde der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA). Sie war auch schon Sprecherin auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag.

Nadia Bolz-Weber ist so etwas wie der Star der Emergenten und progressiven Evangelikalen – und zwar vor allem wegen ihres Umgangs mit dem Thema Homo- und Transsexualität. Die US-Pastorin hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, in denen sie über ihre Bemühungen berichtet, LGBTI-Menschen in die christliche Gemeinde zu integrieren. Sie selbst stammt aus einem streng religiösen Elternhaus, kritisiert eine Gesetzlichkeit der Evangelikalen, bemüht sich aber auch um eine Verbindung der frommen und ihrer eigenen liberalen lutherischen Lebenswelt.

Und weil die volltätowierte Theologin gerne aneckt, ja, unter anderem deshalb sogar gefragte Rednerin und Buchautorin geworden ist, dürfte es niemanden wundern, dass sie nun das wohl heißeste Eisen anfasst, dass bei Christen im Feuer liegt: Sex. Zunächst auf Englisch hat sie Ende Januar ein Buch veröffentlich, das nicht weniger fordert als eine sexuelle Reformation. Der Autorin geht es darum, Sex aus der Verbotszone christlicher Gemeinden herauszuholen. Ihr Plädoyer kann so zusammengefasst werden: Was im Schlafzimmer von Christen geschieht, soll nicht dort bleiben. Es braucht einen offenen Umgang mit Sexualität und eine Abschaffung althergebrachter und fälschlicherweise als biblisch verstandener Ideen wie der Ablehnung von gleichgeschlechtlicher Liebe oder Sex vor der Ehe. Zwang und Druck in diesem Bereich zerstört die Psyche und das Leben von Christen. Richtig ist stattdessen ein freier und eigenverantwortlicher Umgang mit dem Thema, so Bolz-Webers Thesen.

Bolz-Weber berichtet von Abtreibung

So weit, so aufregend, aber wirklich überraschend ist das alles für jene, die Bolz-Weber bereits kennen, wohl nicht. Zumindest bis zum sechsten Kapitel. Darin aber schreibt die Pastorin auf, was die Frommen auf jeden Fall, vielleicht aber auch einen Teil der Progressiven irritiert zurücklassen wird: Sie berichtet von einer Abtreibung, die sie in ihren Zwanzigern hat durchführen lassen. Und darüber, dass sie den Eingriff nicht bereut. Stattdessen rechtfertigt sie ihn mit ihrem Bibelverständnis. Und das ist plötzlich überraschend buchstabengetreu.

Bolz-Weber beschreibt ihre damalige Situation so: Sie sei 24 Jahre alt gewesen, in einer Beziehung, die nicht halten würde, seit zwei Jahren trockene Alkoholikerin und habe sich finanziell geradeso über Wasser halten können. Aus früheren Erfahrungen habe sie gewusst, dass es ihr nicht möglich gewesen wäre, ein geborenes Kind zur Adoption freizugeben. „Das war der Moment, als ich zu dem Mädchen wurde, das sich 300 Dollar leihen musste, um eine Sache zu tun, von der sie niemals dachte, dass sie sie tun würde“, schreibt sie, und an anderer Stelle: „Meine Wahl zerstörte mich für eine gewisse Zeit – aber nicht, weil ich dachte, ich hätte eine schreckliche Sünde begangen oder weil ich mich schämte. Es war, weil ich wusste, dass ich dieses Baby geliebt hätte.“ Sie reflektiert das Geschehene weiter: „Niemals, nicht für eine einzige Minute, habe ich meine Entscheidung bereut. Es war die richtige.“

Ein verstörender Satz

Möglicherweise spricht Bolz-Weber in diesem Buchkapitel erstmalig offen über ihre Abtreibung. Und sicherlich wäre es vermessen, ihre Entscheidung aus der Ferne zu bewerten. Mindestens überraschend ist es aber, wenn sie die Abtreibung mit ihrer Lesart der Bibel rechtfertigt. Sie zitiert dazu Genesis zwei, Vers sieben: „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ Bolz-Weber weist darauf hin, dass jüdische Rabbiner lange lehrten, die Seele komme durch den ersten Atemzug eines Babys in dessen Körper. Einige Zeilen weiter schreibt sie das noch einmal deutlich: „Fakt ist, viele von uns haben eine Sicht, die Christen und Juden für eine sehr sehr lange Zeit innehatten – dass, basierend auf der Schöpfungsgeschichte in Genesis, das Leben mit dem Atem beginnt.“ Ein verstörender Satz.

Denn fraglich ist zunächst: Stimmt das überhaupt? Tatsächlich gibt es im Judentum die Überzeugung, dass der Embryo vor dem 40. Tag nach der Befruchtung als „bloßes Wasser“ gilt. Diese Überzeugung entstammt einigen Stellen im Babylonischen Talmud. Auch das moderne Judentum bezieht sich auf diese 40 Tage, etwa wenn es um embryonale Stammzellenforschung geht. Vom „ersten Atemzug“ ist dort aber nicht die Rede, schon gar nicht beim Thema Schwangerschaftsabbruch.

Im Christentum herrschte selbst im Mittelalter und in der frühen Kirche nicht die Meinung vor, das Leben beginne mit dem ersten Atemzug. Unterschiedliche Auffassung gab es eher in der Frage, wann die Seele in den Menschen einzieht. Davon abgesehen war von Tertullian bis Augustinus, von Luther bis Calvin klar, dass Abtreibungen unvereinbar mit der christlichen Ethik sind. Schon in der Didache, einer der ersten frühchristlichen Kirchenordnungen aus dem 1. Jahrhundert, wurden Abtreibung verboten. In der Synode von Elvira um 300 nach Christus wurden Abtreibungen scharf verurteilt, im Gegensatz zum heidnischen Umfeld, in dem die Christen lebten. Mit anderen Worten: Die von Bolz-Weber festgestellte Einigkeit gab es zwar. Sie war nur genau umgekehrt.

Doch selbst wenn die christliche Tradition wirklich die Haltung von Bolz-Weber rechtfertigen würde, bleibt die Frage: Welches Gewicht hätte dieses Argument bei reformatorisch gesinnten Christen, die sich zum „sola scriptura“, „allein die Schrift“ bekennen? Noch verwunderlicher ist das bei einer Pastorin wie Bolz-Weber, die ansonsten nicht gerade besonders viel auf Tradition gibt. Die reformatorische Pflicht, unbiblische Traditionen zu hinterfragen, müsste für die Lutheranerin ein wichtiges Ziel sein.

Adam war nie im Mutterleib

Stattdessen lässt sie sich auf eine Exegese ein, die sowohl den biblischen Kontext als auch wissenschaftliche Erkenntnisse außer Acht lässt. Als „fundamentalistisch“ werden solche Auslegungen häufig abschätzig bezeichnet. In der Genesis-Stelle geht es um den Schöpfungsakt von Adam, nach biblischer Überzeugung der erste Mensch. Er selbst war nie im Mutterleib, sondern wurde direkt von Gott aus Staub geformt. Zu leben begann er erst, als Gott ihm seinen Atem einblies. Die Stelle in Genesis beschreibt demnach den Schöpfungsakt des ersten Menschen – und nicht den Schöpfungsakt jedes Menschen. Zudem: Kein Mediziner würde behaupten, das Leben eines Menschen beginne mit dem ersten Atemzug. In der siebten Schwangerschaftswoche beginnt das Herz zu schlagen, in der 23. nimmt das Ungeborene Geräusche wahr. Dies trotz theologischer und medizinischer Erkenntnisse zu ignorieren, ist die religiöse Verkehrung einer biologischen Tatsache.

Darüber schwebt eine noch viel gewichtigere Frage: Wenn das Leben des Menschen wirklich mit dem ersten Atemzug beginnt, wären dann Schwangerschaftsabbrüche bis kurz vor der Geburt, ja, bis vor dem Durchtrennen der Nabelschnur, denkbar? Auch Bolz-Weber kann das nicht wollen.

Von: Anna Lutz/Nicolai Franz

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Eine Antwort

  1. Die selben Leute, die in Gen 1f. die christliche Ehe finden, möchten nun nicht, dass verallgemeinert wird. Die Werdung Adams ist also nicht die Menschwerdung. Wozu hab ich bloß Hebräisch gelernt?

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