Nach Freitod der Kessler-Zwillinge: Neuerliche Debatte über assistierten Suizid

Der Freitod der Kessler-Zwillinge hat zu einer Diskussion über assistierten Suizid geführt. Vertreter von Lebensrecht, Diakonie und Caritas mahnen zu ethischer Sorgfalt, mehr Prävention und verantwortlichem Umgang mit Sterbewünschen.
Von Norbert Schäfer
Wohltuende Gemeinschaft könne dem Suizid im Alter vorbeugen, meinen der Jurist Steffen Augsberg und der Theologe Peter Dabrock

Der gemeinsame assistierte Suizid der 89-jährigen Kessler-Zwillinge hat eine Debatte über Selbstbestimmung und die gesellschaftliche Verantwortung im Umgang mit Sterbewünschen ausgelöst. Alexandra Linder, Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht, kritisierte in einer Pressemitteilung vom Donnerstag die mediale Darstellung des Falls als „Form der Quasi-Verherrlichung eines tragischen Todes“. Sie warnte vor dem sogenannten Werther-Effekt (Der Werther-Effekt bezeichnet den Anstieg von Suiziden nach medial viel beachteten oder detailliert geschilderten Selbsttötungen, die zu Nachahmungen führen können.) und forderte mehr Zurückhaltung und Verantwortung in der Berichterstattung.

Die Künstlerinnen Alice und Ellen Kessler waren am Montag im Alter von 89 Jahren in Grünwald bei München aus dem Leben geschieden. Die Schwestern hatten dabei Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) in Anspruch genommen, wie die Organisation nach dem Tod der Damen bekanntgab. Demnach handelte es sich um „assistierten Suizid“.

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Vielmehr müssten nach Linders Auffassung kritische Fragen zur Ethik und zu den Hintergründen gestellt werden. Etwa, ob ein Jurist ohne Kenntnis der Personen und entsprechende Fachausbildung „den psychischen und physischen Zustand, die Vorgeschichte und die Autonomie dieser Personen“ bewerten könne? Und ob die hochbetagten Damen „ohne Einfluss von außen, ohne akuten Schmerzzustand, ohne Einfluss durch Medikamente, ohne Angst vor Einsamkeit, vor der Zukunft, vor Leiden“ ihren Entschluss gefasst hätten oder ihnen Alternativen wie Palliativversorgung ausreichend aufgezeigt wurden? Eine Legalisierung oder auch nur Akzeptanz des assistierten Suizids sei für die Betroffenen und ihre Angehörigen verheerend und für Staat und Gesellschaft ein Armutszeugnis, hieß es in der Pressemitteilung.

Caritas warnt vor der „Romantisierung“

Der Deutsche Caritasverband warnte vor der „Romantisierung von assistiertem Suizid“. Die ausführliche Berichterstattung setze ältere Menschen unter sozialen oder psychischen Druck. „Insbesondere alte Frauen sehen sich in der Verantwortung, niemandem zur Last zu fallen und nehmen die Angebote für assistierten Suizid als notwendig zu prüfende Handlungsoption wahr“, warnte Caritas-Präsidentin Eva Welskop-Deffaa. Der Verband fordert eine zurückhaltende und verantwortungsvolle Berichterstattung über Suizide und Suizidassistenz, um Nachahmungseffekte zu vermeiden und verlangt mehr Suizidprävention, bessere Begleitung und klare gesetzliche Regelungen zur Sterbehilfe und dem assistierten Suizid.

Auch Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch mahnte im Zusammenhang mit dem Freitod der Kessler-Zwillinge, Sterbewünsche nicht vorschnell als Ausdruck reiner Selbstbestimmung zu deuten. Erfahrungen aus der diakonischen Arbeit zeigten, dass „nahezu jeder Sterbewunsch, auch der nach assistiertem Suizid, Ausdruck einer existenziellen Krise“ sein könne. Es gebe nicht nur den einen klaren Wunsch zu sterben, erklärte Schuch laut Evangelischem Pressedienst (epd) weiter, sondern auch den Wunsch, nicht mehr so weiterleben zu müssen – damit sei der Wunsch nach Gemeinschaft, Gespräch und Begleitung verbunden. Schuch betonte, dass es nicht nur um medizinische, sondern auch um soziale und spirituelle Begleitung von Menschen in Krisen, von Schwerkranken und Sterbenden gehe. Der Diakonie-Chef drang auf Ausbau und gesetzliche Verankerung der Suizidprävention, der Hospizarbeit und der Palliativversorgung. Ziel müsse sein, Menschen in belastenden Lebenslagen wirksame Alternativen zum Suizid aufzuzeigen.

Der frühere Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat nach dem selbst gewählten Tod der Kessler-Zwillinge gesetzliche Regelungen zur Sterbehilfe gefordert. Die gegenwärtige Situation erlaube Assistenz beim Suizid, die ethisch nicht vertretbar sei, erklärte Lauterbach gegenüber der „Rheinischen Post“. „Heute ist es nicht gesichert, dass Menschen, die diesen Weg gehen, nicht unter psychischen Erkrankungen leiden, die ihre Entscheidungsfähigkeit einschränken“, sagte der ehemalige Bundesminister, und weiter: „Auch sind kommerzielle Angebote in der Suizidassistenz nicht ausgeschlossen.“ Lauterbach gab sich gegenüber der Zeitung als „klarer Befürworter des assistierten Suizids“ zu erkennen.

Der Sachstand

  • 2020 erklärt das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe für nichtig und betonte das Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
  • Juni 2022: erste Debatte im Plenum über drei verschiedene, jeweils fraktionsübergreifende Gesetzesentwürfe – zwei eher liberale, einer eher restriktiv, mit einem Fokus auf Schutzkonzept und Prävention; die beiden liberaleren Entwürfe werden später zu einem zusammengeführt
  • Juli 2023: Beide zur Abstimmung stehenden Entwürfe finden keine Mehrheit, es gibt weiterhin keine Regelung für assistierten Suizid.
  • April 2024: Die Unterstützer beider Entwürfe streben eine neue Abstimmung in der laufenden Legislatur an, ein dritter Entwurf kommt hinzu, doch abgestimmt wird nicht mehr darüber.
  • November 2024: Das Bundeskabinett von Kanzler Olaf Scholz (SPD) verabschiedet einen Gesetzesentwurf von Gesundheitsminister Karl Lauterbach zur Prävention von Suiziden, zur Abstimmung im Bundestag kommt der Entwurf nicht mehr.

Das sagten die Parteien zur Bundestagswahl 2025 in ihren Wahlprogrammen zum Thema Sterbehilfe

CDU: Präventionsgesetz beschließen, Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung ausbauen, Ablehnung aktiver Sterbehilfe; keine konkrete Aussage zu assistiertem Suizid

AfD: Ablehnung von „Töten auf Verlangen“; Palliative Möglichkeiten sind auszuschöpfen, es darf kein Druck auf Schwerkranke entstehen; keine konkrete Aussage zu assistiertem Suizid

Grüne: Suizidpräventionsgesetz beschließen; mehr Hilfe, niedrigschwelligen Zugang zu psychosozialen und therapeutischen Angeboten schaffen, Krisendienste ausbauen; keine konkrete Aussage zu assistiertem Suizid

FDP: betont Recht auf selbstbestimmtes Sterben; Sterbehilfe rechtssicher in Anspruch nehmen, zugleich Prävention „spürbar ausbauen“

Linke/SPD/BSW: kommt im Wahlprogramm nicht vor

Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt?
Hilfe bietet die Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.
Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter http://www.telefonseelsorge.de .

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