Muslimischer Denker fordert Wandel der islamischen Kultur

Die Kultur des Islam wird untergehen. Zu diesem Schluss kommt der deutsch-ägyptische Wissenschaftler Hamed Abdel-Samad in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt". Die islamische Welt habe zu lange sträflich über ihren Verhältnissen gelebt.
Von PRO

In seinem Buch "Der Untergang der islamischen Welt", das am heutigen
Freitag in die deutschen Buchläden kommt, hat Abdel-Samad seine Thesen
begründet. Der Autor gilt als einer der profiliertesten islamischen
Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. In seinem Buch empfiehlt er
Muslimen, sich ihren Glauben nicht von selbst ernannten Autoritäten
"servieren" zu lassen, sondern immer auf der Suche zu sein – "ohne
vorgefertigte Antworten und Wahrheiten".

Islam braucht eine
"geregelte Insolvenz"

Eine kritische Bestandsaufnahme des Islam
hält er für unabdingbar. Dieser müsse eine "geregelte Insolvenz"
betreiben und sich von dem Bild einer "unantastbaren Religion mit einem
absolutistischen Gottesbild" verabschieden. Dies gelte auch für "falsche
Vor- und Feindbilder" und das "unzeitgemäße Gesellschaftsbild mit
absurden Vorstellungen". Abdel-Samad benutzt dafür den Begriff der
"geistigen Erneuerung": eine Wandlungsfähigkeit, die er dem Islam
durchaus zutraue. Der 38-Jährige kritisiert auch, dass "für alle Miseren
und Probleme der Westen als Sündenbock herhalten" muss.

Auch zu Menschen, die den Islam kritisieren, positioniert er sich: "Es geht mir nie darum, dass bestimmte Personen Recht haben. Es geht darum, dass sie das Recht haben, dies zu äußern oder jenes zu tun. Das müssen wir als Muslime akzeptieren. Wir müssen mit unseren Emotionen anders umgehen, unverkrampfter."

Allmachtsvisionen und Minderwertigkeitskomplexe


Aus seiner Sicht finde sich die islamische Welt nicht damit ab, dass sie keine führende Rolle in der Welt mehr spiele: "Sie ist gekränkt, besteht aber noch immer auf ihrem kulturellen Beitrag." Aus der Blütezeit des Islam werde noch heute eine moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen abgeleitet. Jedoch: "Weder wissenschaftlich noch kulturell sehen wir irgendwelche Beiträge aus der islamischen Welt, die der Menschheit zugutekämen." 

Diese Entwicklung führe zu einer Schizophrenie aus Allmachtsvisionen und Minderwertigkeitskomplexen. Aus dem Drang etwas tun zu müssen und dem Mangel an Handlungsoptionen resultiere Isolation, die "wiederum zu Gewalt und Terror einer Minderheit" führt. Wirkliche Hoffnungsträger für eine positive Entwicklung des Islam sieht Abdel-Samad nicht: "Einen Fahnenträger gibt es nicht, es gibt nur Karnevalisten."


Der Untergang der islamischen Welt sei die logische Konsequenz einer "seit vielen Jahrzehnten verfehlten Identitäts- und Bildungspolitik sowie einer asymmetrischen Beziehung zum Westen, die auf Paranoia und Ressentiments basiert". Als mangelhaft empfindet der Wissenschaftler die gegenseitige Befruchtung des islamischen und des westlichen Kulturkreises. Der von Samuel Huntigton vorausgesagte Kampf der Kulturen ist für ihn längst zur Realität geworden – selbst innerhalb der islamischen Staaten.


Energien münden in Chaos und Gewalt

Es gebe zwar muslimische Exilanten, die alte Strukturen verlassen und nach neuen Antworten suchten. Doch diese fänden keine demokratische Infrastruktur vor, in der sie ihre Energien leiten könnten. Deshalb mündeten diese in Chaos und Gewalt. Davon ernähre sich der  Fundamentalismus. Muslimische Exilanten bekämen zwar Applaus in ihren Gastländern, "aber in den islamischen Ländern kennt sie kaum jemand".

Hamed Abdel-Samad wirbt für einen "postkoranischen Diskurs": "Wir müssen nicht alles aus dem Koran ableiten." Die spirituelles Seite des Korans sei für alle Zeiten gültig, die juristisch-politische dagegen sei im 7. Jahrhundert entstanden und habe im 21. Jahrhundert nichts zu suchen.  Eine Reform in der islamischen Welt könne es erst dann geben, "wenn muslimische Häretiker unbehelligt auf der Straße laufen können".

Hamed Abdel-Samad, der sich selbst als Häretiker im positiven Sinne bezeichnet, hat eine bewegte Lebensgeschichte. Er ist der Sohn eines sunnitischen Imams und kam mit 23 Jahren nach Deutschland. Bekannt wurde er 2009 durch sein Buch "Mein Abschied vom Himmel". Nach der Veröffentlichung, in der er auch über seine Vergewaltigung schrieb, stand er in Ägypten unter Polizeischutz.


Zurzeit forscht der 38-jährige Politikwissenschaftler und Historiker am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur in München. Zuvor arbeitete er für die Unesco in Genf und am Lehrstuhl für Islamwissenschaft in Erfurt. In zwei Monaten will Hamed Abdel-Samad nach Ägypten reisen und dort öffentlich zu seinen Thesen Stellung beziehen: "Nur dadurch entsteht Diskurs, hart in der Sache, aber mit Respekt im Dialog." (pro)

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