„Mit Flüchtlingen kann man kein Wahlprogramm machen“

Immer mehr Flüchtlinge aus Krisengebieten suchen in Deutschland Asyl. Viele Kommunen fühlen sich mit Unterbringung und Versorgung überfordert. Initiativen aus Kirche und Politik zeigen, dass mehr machbar ist, als auf den ersten Blick möglich zu sein scheint – wenn alle mit anpacken.
Von PRO
Pfarrer Andre Hermany muss sich oft mit Händen und Füßen verständigen. Viele der Jungen sprechen nur gebrochenes Englisch
Wild miteinander gestikulierend steht eine Gruppe Jugendlicher im Hof des Pfarrhauses. Die meisten haben eine dunkle Hautfarbe und sehen südländisch aus. Es fallen die Begriffe „SIM-Karte“ und „Handy“. Sie reden auf einen Mann in ihrer Mitte ein, der ebenfalls wild in der Luft herumfuchtelt und einige englische Worte dazwischenruft. Der hellhäutige Mann mit der Brille ist Pfarrer André Hermany. Die Jugendlichen wollten eine SIM-Karte für ihre Handys, um zu Hause anzurufen, erklärt er. Aber selbst, wenn sie eine SIM-Karte bekämen, wäre das für die meisten fast unmöglich. Auch wenn viele von ihnen sich das so sehr wünschen. Die 13- bis 17-jährigen Jungen sind Flüchtlinge aus Syrien, dem Iran, Somalia, Eritrea, Bangladesch und Pakistan. In der Pfarrei St. Otto im bayerischen Cadolzburg haben sie für ein paar Wochen ein Zuhause gefunden, bis sie an Clearingstellen weitervermittelt werden. Ein Asylverfahren läuft bei Minderjährigen anders ab als bei volljährigen Bewerbern. Nach ihrer Ankunft in Deutschland werden sie oft in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht und erhalten einen Vormund. Ein Clearingverfahren klärt ihre Fluchtgründe und ihre Familiensituation, anschließend werden die Minderjährigen in Wohngruppen oder Pflegefamilien vermittelt. Je nach Alter gilt dann die Schulpflicht oder sie werden für den Arbeitsmarkt ausgebildet. Ziel ist es, die Jugendlichen in Deutschland zu integrieren.

Jeder hilft mit

Auf dem Gelände seiner Pfarrei betreibt Hermany ein kleines Lager für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge. Die Idee, die Jungen zu beherbergen, hatte Hermany, weil die nächstgelegene Erstaufnahmeeinrichtung in Zirndorf keine Minderjährigen aufnehmen darf. „Der Landrat hat die Sorge geäußert, er wüsste nicht wohin mit den Flüchtlingen. Ich habe gesagt, ich mache das Pfarrzentrum auf“, erinnert sich der 57-Jährige. Das war Anfang September. Derzeit kümmert er sich mit einem Team von mehr als 30 Helfern um über 24 Jugendliche. Die Unterstützung, die Hermany von seiner Gemeinde und den Bewohnern aus dem Ort erfahren hat, ist beachtlich. „Ich habe die Räume hier geöffnet ohne Vorwarnung an die Kirchenleitung und habe die Gemeinde hinterher um Verständnis gebeten“, sagt er. Von einem Tag auf den anderen brauchte er Kleidung, Betten, Duschcontainer und Lebensmittel. Vieles kam über Spenden aus dem Ort. Eine heile Welt ist das Camp trotz aller Bemühungen nicht. Ein Wachdienst ist Tag und Nacht vor Ort, um eventuelle Streitereien zu schlichten. Zudem gebe es auch unter den Flüchtlingen eine Kluft zwischen Arm und Reich: „Ich vermute, einige sind begütert und die Eltern haben ihren Kindern Geld gegeben, damit sie gehen können. Andere kommen teilweise ohne Schuhe an und werden hier eingekleidet.“ Die Sprachbarriere ist ein großes Problem. Auch wenn sich ein Iraker, ein Bangladeschi und zwei Frauen aus Eritrea bereitgefunden haben, Hermany als Dolmetscher zu unterstützen, reicht das nicht aus. „Die Jugendlichen wollen ihre Geschichten loswerden und reden“, ist der Pfarrer überzeugt. Er brauche Psychologen und mehr Dolmetscher.

Unterbringung: „Wir haben das Potenzial“

Hermany wünscht sich mehr Einsatz vom Bundesland Bayern. „Unsere bayerische Politik hat total versagt. Sie hat das Problem der Flüchtlinge nicht richtig wahrgenommen“, meint er. Weil der Druck immer größer werde, tue sich mittlerweile etwas. Schlechte Karten habe er als Flüchtlingshelfer trotzdem. „Mit Flüchtlingen kann man kein Wahlprogramm machen“, sagt der Pfarrer. Für den Wahlkampf sei das Thema Asyl deshalb nicht entscheidend. Hermany hat einen Vorschlag, wie Abhilfe geschaffen werden könnte: „[…] Wir haben Priestermangel und so viele leer stehende Pfarrhäuser. Wir haben das Potenzial“, sagt er. Auch in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg klagen Kommunen, sie könnten die ihnen vom Land zugewiesenen Flüchtlinge nicht alle unterbringen. Welches Land wie viele Asylsuchende aufnimmt, regelt der Königsteiner Schlüssel. Er wird jedes Jahr entsprechend der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) neu berechnet. Unter anderem hat Duisburg mit der Unterbringung von vielen Flüchtlingen zu kämpfen. In der Stadt mit etwa 480.000 Einwohnern suchen derzeit etwa 1.700 Menschen Asyl. „Für 2014 gehen wir von Gesamtkosten in Höhe von rund 10,4 Millionen Euro aus“, sagt Pressesprecherin Susanne Stölting. 2,1 Millionen Euro wird das Land tragen. Duisburg ist jetzt bereits mit 4.489 Euro pro Kopf verschuldet.

Sichere Zuflucht Deutschland

Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland, das die meisten Flüchtlinge aufnimmt. 21,2 Prozent aller Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind es in diesem Jahr. Eine Wahl, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen, haben die Bundesländer wie auch die Kommunen wegen des Königsteiner Schlüssels nicht. Sowieso muss Deutschland jeden Kriegsflüchtling aufnehmen. Das regelt die Genfer Flüchtlingskonvention, der 143 Staaten angehören. Wer aufgrund seiner Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung in seinem Heimatland verfolgt wird und das nachweisen kann, findet in Deutschland auf jeden Fall Asyl. Er darf jedoch nicht über einen sicheren Drittstaat, wie zum Beispiel Griechenland, eingereist sein. So ist für einen Flüchtling, der nach Europa kommt, das Land zuständig, in dem er zum ersten Mal einen Fuß auf den Boden gesetzt hat. Im sogenannten Dublinverfahren wird der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Staat bestimmt. Das europäische Statistikamt Eurostat hat ermittelt, dass Deutschland mit Abstand die höchste Anzahl an Asylbewerberzugängen verzeichnet. Im August dieses Jahres waren es 17.680. Auf Rang zwei steht Schweden mit 8.880. Zusätzlich nimmt Deutschland als bisher einziges EU-Land im Rahmen einer humanitären Aufnahmeaktion 20.000 Flüchtlinge aus Syrien auf.

„6,80 Euro pro Person ist zu wenig“

In Hessen haben die Kommunen Ortenberg und Glauburg Anfang Oktober vor dem Landgericht Gießen gegen die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen geklagt. Ortenberg mit seinen knapp 9.000 Einwohnern sollte 26 Menschen aufnehmen. 20 Flüchtlinge leben dort bereits seit einigen Monaten. Bei Glauburg mit etwas mehr als 3.000 Einwohnern sollten zu bisher sieben sechs weitere dazu kommen. Die Pauschale von 6,80 pro Person, die die Kommune vom Bundesland bekomme, sei zu gering, sagten die Ortenberger Bürgermeisterin Ulrike Pfeiffer-Pantring und ihr Glauburger Kollege Carsten Krätschmer. Mit ihrer Klage sind sie gescheitert: Der Kreis dürfe die Flüchtlinge auf die Kommunen verteilen und dabei dürften auch kleinere Orte in die Pflicht genommen werden, lautete das Urteil der Richter. Bei nur einer geringen Anzahl von Flüchtlingen sei das zu bewältigen. Der Bundestagsabgeordnete der CDU, Martin Patzelt, kann nachvollziehen, warum viele Städte freiwillig erst einmal keine leer stehenden Wohnungen nutzen. „Sie müssen dann ja auch die Lasten der Sozialhilfe tragen: Ernährung und Krankenkosten. Von Länderseite her müsste da ein anderes Ausgleichsverfahren gesucht werden, weil man das den armen Kommunen nicht auch noch anlasten kann“, sagt er. Patzelt plädiert dafür, den Kommunen, die freie Wohnungen haben, einen höheren Ausgleich für die Aufnahme der Flüchtlinge zu zahlen. In seiner Funktion als Bundestagsabgeordneter wirbt Patzelt zudem für mehr bürgerschaftliches Engagement und schlägt vor, eine „private freiwillige Unterbringung von Bürgerkriegsflüchtlingen zu erwägen und rechtlich zu ermöglichen“. Er habe schon oft die Bereitschaft von Bürgern erfahren, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Auch Patzelt selbst öffnete schon sein Haus für Asylsuchende. Die Flüchtlinge bei ihm waren zwar ständige Gäste, mussten wegen der Residenzpflicht jedoch weiterhin im Asylbewerberheim wohnen. Mit seinem Vorschlag im Bundestag setzt er sich nun dafür ein, dass die private Aufnahme von Flüchtlingen gesetzlich ermöglicht wird. Der Gastgeber solle dann auch die Kosten für die Unterkunft übernehmen.

Botschaft der Kirchen muss „eindeutiger“ sein

Der aktive Christ wünscht sich auch von Kirchengemeinden mehr Engagement. In der Verkündigung der Kirchen und Gemeinden gebe es zwar oft allgemeine Verlautbarungen wie „Der Staat muss etwas tun“, oder „Wir müssten etwas tun“. Praktisch geschehe aber wenig. Es gebe zwar einzelne, erfreuliche Initiativen. Von den Vertretern kirchlicher Gemeinschaften wünscht Patzelt sich aber, dass sie ihre Botschaften „viel klarer und eindeutiger und auch ein bisschen einfordernder“ an die Gemeinden richten. Eines dieser „erfreulichen Projekte“ initiierte Richard Lallathin im baden-württembergischen Mosbach. Er ist Pfarrer der örtlichen Johannes-Diakonie. Auf dem Gelände der Diakonie leben derzeit etwa 40 muslimische Asylbewerber im „Haus am Wald“. Das Gebäude diente zuvor als Wohnstätte für Menschen mit Behinderung. Jetzt ist es eine Ergänzung zum Asylbewerberheim in Hardheim. Darum, dass die Flüchtlinge sich bei in der Johannes-Diakonie wohlfühlen, Hilfe und Betreuung erhalten, kümmert sich Lallathin. Anfang Juli rief er den Arbeitskreis Asyl ins Leben. Seit Anfang August kümmert er sich mit etwa 80 Helfern aus Kirche und Stadt um die Männer.

„Selbstgemachter Druck“ der Kommunen?

Der Politik wirft Lallathin, ebenso wie Hermany, verspätetes Handeln vor. Gleichzeitig ist er aber auch überzeugt, dass sich einige Kommunen zu Unrecht beklagen. Lallathin erinnert an die 90er Jahre, als durch Jugoslawienkrieg und Spätaussiedlung viele Menschen nach Deutschland drängten. „Damals hieß es auch: ‚Wir schaffen es nicht.‘ Es war eine Herausforderung, aber jetzt ist das Thema durch und unsere Gesellschaft profitiert davon“, sagt er. Der Druck sei auch „ein bisschen selbstgemacht“. Eigentlich hätte man schon Anfang des Jahres wissen können, was zu tun sei. Das trifft aber nicht auf alle zu. Einige Kommunen sind tatsächlich mit einer weiteren Aufnahme von Flüchtlingen überfordert. Das zeigt das Beispiel Duisburg. Auch Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge e.V., Pro Asyl, gesteht ein, dass einige Länder überfordert sind. Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein kämen jedoch mit der Unterbringung klar. Er stellt auch fest, dass es nicht immer die ärmsten Kommunen sind, die sich über hohe Kosten beklagen. „Eines der dauerhaftesten Containerprovisorien steht in einem der reichsten deutschen Landkreise (Oberursel/Hochtaunuskreis). Das steht dort nicht erst, seit die Zahlen steigen“, erklärt er.

„Weihnachten ist jetzt“

Ein stärkeres Engagement der Bundesregierung forderten auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer Anfang Oktober. Ebenso wie Mesovic erklärte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), der Grund für über 100.000 nicht abgeschlossene Asylverfahren sei fehlendes Personal beim BAMF. Die Minister waren sich zudem einig, dass sich die Bundesregierung auch für eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa einsetzen müsse. „Nur zehn Länder nehmen Flüchtlinge auf, vier Länder 70 Prozent davon“, sagte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis90/Die Grünen). „Flüchtlingsaufnahme ist eine gesellschaftliche Daueraufgabe. Zelte und Container mögen – zum Teil auch wegen falscher Planungen in der Vergangenheit – mancherorts zurzeit unumgänglich sein. Noch während dieser Provisorien muss aber die Zukunft geplant werden“, sagt Mesovic. Die Flüchtlingskatastrophe erfordere viel Engagement und Hilfsbereitschaft. Neben politischer Planung geht es deshalb auch um bürgerschaftliches Engagement. Die Projekte von Hermany und Lallathin zeigen, dass dabei auch die Kirchen gefordert sind und mit gutem Beispiel vorangehen können. Oder um es mit den Worten des Cadolzburger Pfarrers zu sagen: „Weihnachten ist jetzt. Die Menschen suchen eine Herberge. Das bedeutet nicht nur Essen, Trinken und Schlafen. Das heißt auch, angenommen zu sein.“ (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/interview-faender-90129/
https://www.pro-medienmagazin.de/kommentar/detailansicht/aktuell/engel-aus-syrien-90187/
https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/veranstaltungen/detailansicht/aktuell/igfm-fordert-abschaffung-der-blasphemie-gesetze-90388/
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