Mein Daumen drückt den Fahrstuhlknopf. Mit Rucksack und Koffer bin ich auf dem Weg in den vierten Stock zu der kleinen Wohnung in Berlin-Moabit, die ich mir mit einem Freund teile, wenn ich hier arbeite. Als die Tür sich öffnet, steht eine alte Frau mit ihrem Rollator im Fahrstuhl. Achtzig wird sie wohl sein. Sie sieht mich an, macht aber keine Anstalten, auszusteigen. „Möchten Sie durch?“, frage ich, und schiebe mein Gepäck, das den Ausgang versperrt, ein wenig zur Seite, um ihr Platz zu machen. „Nein, nein, fahren sie nur, ich habe hier noch etwas zu erledigen.“
Ich drücke den Knopf mit der „vier“. Sie hebt erklärend ihre Hände. In der einen hält sie ein etwas kitschiges Foto mit einem Paar, das in einer Kutsche gefahren wird. Es sieht aus, als habe sie es aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, in der anderen hält sie einen großen Klebestift. Der Fahrstuhl ist mit Pappkarton verkleidet, das Haus wird zurzeit renoviert, auch der Fahrstuhl ist aktuell eine Baustelle. Überall sind die Wände mit Graffiti beschmiert: Obszöne Zeichnungen, Herzen mit Pfeilen, Telefonnummern und die obligatorischen Kritzeleien wie „Hans ist schwul“ oder „Hassan liebt Mandy“. Die Frau zeigt auf eine Stelle, an der schon andere, ähnliche Fotos mit Motiven von Fachwerkhäusern und Schlössern kleben. „Ah, sie sind dabei den Fahrstuhl zu verschönern“, sage ich und denke: Na, so ganz klar bei Sinnen ist die Dame wohl nicht mehr. „Wo denken Sie hin“, kommt ihre rasche, entschiedene – und sehr klare – Antwort, „ich akzeptiere nur nicht, dass hier Hakenkreuze hingeschmiert werden.“
Nun sehe ich es auch: Eine Ecke des Nazisymbols ist noch zu sehen, der Rest ist mit ihren Bildchen überklebt. „Wow“, entfährt es mir, „das nenne ich mal Zivilcourage. Respekt.“ Die Frau prüft mich einen Moment lang mit einem zweifelnden Blick. Sie fragt sich wohl, ob ich sie verspotten will, oder ob ich – noch schlimmer – vielleicht sogar zu den Nazischmierern gehöre. Sie schaut mir direkt in die Augen, bis sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet. „Danke, dass Sie das auch so sehen. Einige Bewohner reißen meine Bilder immer wieder ab. Aber dann klebe ich eben neue an. Wir können das doch nicht hinnehmen. Nie wieder. Oder was meinen Sie?“ „Da haben Sie vollkommen recht, lassen Sie sich nur nicht kleinkriegen“, ermutige ich sie, und da erreicht der Fahrstuhl auch schon den vierten Stock. „Ganz bestimmt nicht. Einen schönen Abend, junger Mann.“
Seit Mai 2023 schreibe ich einmal im Monat diese Kolumne „Gesichter der Welt“. Das hier ist die 28. Folge. Immer hatte das jeweilige Gesicht einen Namen und dazu gab es ein Foto. Dieses Mal bleibt der Beitrag anonym. Auch wenn ich ihn gerne nennen würde: Ich kenne den Namen der Frau nicht. Ich hätte ein Foto machen und sie nach ihrem Namen fragen sollen, denke ich später. Der Häuserblock aus den 1960er Jahren, in dem wir wohnen, ist groß. Ich bin eigentlich nur zum Schlafen hier, wenn ich abends aus dem Tearfund-Büro komme. Meine Nachbarn sehe ich selten. Auf den Klingelschildern im Hauseingang lese ich: Marinov, Ngyuen, Ortega und Al Hassan neben Weber und Johannsen. In Berlin-Moabit sind die Nationen bunt durchgemischt.
» Honorable Othow Okoti – und das Radio der Versöhnung
Ist sie eine Deutsche, frage ich mich? Und muss im selben Moment den Kopf über mich schütteln. Welche Rolle spielt das denn? Ob Deutsch oder Syrisch, ob Ukrainisch, Portugiesisch oder Vietnamesisch; ob Christin, Jüdin, Muslima oder Atheistin: diese Frau ist ein Mensch, der möchte, dass Nazis und ihre – übrigens verbotenen! – Symbole hier in ihrem Haus nicht geduldet werden. Dafür bestückt sie ihren Rollator und klebt Zeitungsausschnitte an die Fahrstuhlwand. Wieder und wieder, erstaunlich hartnäckig.
Das mag nicht allzu viel sein. Doch es ist beeindruckend. In einer Zeit, in der Menschen einander in den sozialen Medien beschimpfen. Einer Zeit, in der der Antisemitismus in Deutschland neue Blüten treibt. In der Gewalt gegen Politiker und Polizisten rapide zugenommen hat. In einer Zeit, in der wir das oft genug schweigend hinnehmen. In einer solchen Zeit ist diese alte Dame auf ihren wackligen Beinen im Fahrstuhl ein echtes Vorbild. Und vielleicht ist es insofern ja passend, dass ich ihren Namen nicht kenne. Sie ist eine Platzhalterin für dich und mich. Wenn jede und jeder von uns in seinem kleinen Alltag solche kleinen Zeichen setzt, können wir gemeinsam eine Menge bewirken.
Von: Uwe Heimowski