Migranten üben Kritik an Wulffs Türkei-Rede

Während Bundespräsident Christian Wulff für seine Rede vor dem türkischen Parlament vor einer Woche viel Lob erhielt, gibt es inzwischen auch kritische Stimmen. Die Evangelische Kirche lobte Wulff für das Hinweisen auf die Probleme der Christen in der Türkei, der "Christlich-Alevitische Freundeskreis der CDU" (CAF) hingegen wünschte sich noch viel deutlichere Worte zu diesem Thema.
Von PRO
Die Türkei schränke die Religionsausübung von Aleviten, Armeniern und Christen massiv ein, sagte die Sprecherin der Gruppe, Madlen Vartian. Die Regierung in Ankara erkläre Kirchen zu Museen und zwinge alevitische Kinder zum islamischen Bekenntnisunterricht. Deshalb dürfe die Türkei derzeit nicht der EU beitreten. "Wir hätten uns von Herrn Wulff eindeutigere Worte gewünscht", sagte Vartian in einer Presseerklärung. "Es wäre zu begrüßen gewesen, wenn die Gemeinschaften der Aleviten, Armenier und Griechen vor einem türkischen Parlament auch namentlich genannt worden wären. Auf die Situation der Aleviten, die zirka ein Drittel der türkischen Bevölkerung ausmachen, hat sich Herr Wulff bedauerlicherweise nicht geäußert", so Vartian.

Die Zerstörung der christlichen Kultur in der Türkei habe ihren Anfang mit dem Genozid an über 1,5 Millionen Armeniern im Jahre 1915 genommen und sich nach Republiksgründung fortgesetzt, heißt es in dem Schreiben. Die christliche Präsenz in der Türkei sei heute "nahezu ausgelöscht", und die wenigen verbliebenen christlichen Gemeinschaften seien "massiven staatlichen Diskriminierungen ausgesetzt".

Ali Yildiz, ein anderer Sprecher des CAF, erklärte, es sei den Nachfahren der Überlebenden des Genozids an den Armeniern verwehrt, der Opfer zu gedenken. "In einem Land, in dem Christen nicht trauern dürfen, kann von einer freien Ausübung der Religion und einem wirksamen Minderheitenschutz nicht die Rede sein." Er klagte zudem an, dass Christen in der Türkei "Bürger 2. Klasse" seien und mit Enteignungsprozessen bedroht, wie jüngst beim Jahrtausende alten aramäischen Kloster Mor Gabriel.

Die Aleviten sind eine Religionsgemeinschaft, die im 14. Jahrhundert in Anatolien aus dem Islam hervorging. Sie ist in Deutschland als Religionsgemeinschaft anerkannt, gilt in der Türkei jedoch als juristisch nicht existent. Der Christlich-Alevitische Freundeskreis der CDU ist ein von Christdemokraten neu gegründetes Forum von unterschiedlichen Migranten, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Austausch zwischen unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften und Aleviten zu intensivieren. Der CAF will sich innerhalb der nächsten zwei Jahre als Sonderorganisation der CDU konstituieren.

Necla Kelek vermisst den "Pro-Christ-Katholiken Christian Wulff"

Wulff habe zu Recht auf die christlichen Ursprünge in der Türkei hingewiesen, stellt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (F.A.Z.) in einem Beitrag am heutigen Dienstag fest. "In Antiochia nannten die Christen sich zum ersten Mal Christen. Die Stadt heißt heute Antakya und liegt auf dem Territorium der Türkei. Auch Tarsus, die Heimat des Apostels Paulus, wo Bundespräsident Christian Wulff jetzt einen ökumenischen Gottesdienst feierte, ist heute türkisch." Außerdem belegten viele der Stätten, die aus der Apostelgeschichte vertraut seien, etwa Ephesus und Caesarea, was Wulff vor dem Parlament in Ankara sagte: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei." Ebenso war Anatolien Kernraum des christlichen Byzanz, erst mit der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen lebten die Millionen von Christen in dem nun muslimischen Imperium.

Die Islamkritikerin und Frauenrechtlerin Necla Kelek kritisierte Wulffs Rede in der Türkei  in einem Kommentar in derselben Zeitung. Aus dem bloßen Auftreten Wulffs vor dem türkischen Parlament meine sie ablesen zu können: "Er schien Furcht vor falschen Worten zu haben. (…) Ich sah einen vorsichtigen Mann am Pult stehen." Inhaltlich habe Wulff die Probleme der Christen in der Türkei und die der Türken in Deutschland verharmlost, so Kelek. Wenn Wulff in Ankara sage, dass niemand in Deutschland seine kulturelle Identität aufgeben oder seine Herkunft verleugnen müsse, fabriziere er "schlichte Gemeinplätze" und entziehe sich damit der Analyse und "verschleiere mehr, als er benennt". Kelek weiter: "Wer Sozialbetrug als ‚Verharren in Staatshilfe‘ verniedlicht, der kann nicht ernsthaft davon ausgehen, dass die Aufforderung, dass sich Migranten an die geltenden Regeln halten müssen, durchgesetzt werden könnte. Das ist Verharmlosung von Problemen auf höchstem Niveau."

Die Frauenrechtlerin und Buchautorin kritisierte zudem den Satz Wulffs: "Die Türkei kann zeigen, dass Islam und Demokratie, Islam und Rechtsstaat, Islam und Pluralismus kein Widerspruch sein müssen." Er benutze hier die Möglichkeitsform und spreche nicht von der Realität. "Denn tatsächlich sind die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit der Türkei noch sehr weit von dem entfernt, was in Europa unter einem Bürger- oder Rechtsstaat verstanden wird. Wenn es denn so gemeint war, hätte er konkreter werden müssen."

Wulffs zwei Wochen zuvor zum Tag der Deutschen Einheit gemachte Bemerkung "Der Islam gehört zweifelsfrei zu Deutschland" habe er bei seinem Besuch mit dem Satz "Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei" gespiegelt, "als seien dies zwei Seiten derselben Medaille". Doch während die Muslime in Deutschland Teil der Gesellschaft und "religiös gut versorgt" seien wie die Christen, seien Christen in der Türkei "immer noch eine unterdrückte Minderheit". Eine Gleichsetzung sei "verstörend und falsch".

Kelek fragt: "Sind wir keine Deutschen, Türken, sondern zuerst Christen, Juden oder Muslime; keine Bürger, sondern Gläubige oder Ungläubige? Ist das die Mission des Pro-Christ-Katholiken Christian Wulff?" (pro)
http://www.faz.net/s/Rub9B4326FE2669456BAC0CF17E0C7E9105/Doc~E6300B4C6C101487A8B1583348B868D0B~ATpl~Ecommon~Scontent.html
http://cafcdu.de/index.php?ka=1&ska=1&idn=2
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