Als Politikerin müsse sie ihre Entscheidungen immer wieder prüfen. „Ich muss auch das Gespräch mit Gott suchen, um zu prüfen, ob das, was ich überlegt habe, richtig ist“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor insgesamt 3.500 Gästen im Christlichen Gästezentrum Württemberg. In Schwäbisch Gmünd sprach sie über „das christliche Menschenbild und die christlichen Grundwerte als Voraussetzung für unser politisches Handeln“. Die Rede der CDU-Vorsitzenden wurde aus dem Forum des Schönblick, in dem 1.200 Zuhörer Platz finden, über Videoleinwände auf das Außengelände übertragen.
Merkel beschrieb die christliche Gemeinschaft, die sie in ihrer Kindheit kennen gelernt habe, als „lebensprägende Erfahrung“. In ihrem Vortrag sprach sie über das christliche Menschenbild, „was mich leitet“. Obwohl Glaube etwas Persönliches sei, aus dem verschiedene Christen unterschiedliche Verhaltensmaximen ableiten würden, sei das C im Parteinamen nicht beliebig: „Jede Entscheidung, die wir fällen, muss vor dieser Basis des christlichen Menschenbildes Bestand haben.“
Merkel fordert Schutz des Lebens
Die Bibel allein sei aber kein Handbuch für die Gestaltung von Politik, „wir müssen ja in der Welt von heute leben. Da haben sich die Zeiten verändert.“ Deswegen sei es nötig, seine Entscheidungen immer wieder abzuwägen: „Menschen stehen im Guten wie im Schlechten viele Möglichkeiten offen“, sagte Merkel und verwies auf ein offenes Europa, zunehmende Digitalisierung und die Auswirkungen des technischen Fortschritts, die Entscheidungen zu Themen forderten, die nicht direkt in der Bibel beschrieben seien.
Im Hinblick auf die moderne Biomedizin sagte die Bundeskanzlerin: „Niemals können wir sagen, nur weil etwas möglich ist, machen wir es auch.“ Sie ergänzte: „Wir müssen Neues schützen und gestalten, wenn wir glauben, dass es den Menschen dient.“ Deswegen sei Politik auch so eine „kontroverse Sache“, bei der es immer wieder darauf ankomme, abzuwägen. Eingriffe in den menschlichen Körper könne man aus christlicher Sicht zwar ablehnen, andererseits könne man auch Schmerzen damit lindern.
Menschen beliebig zu definieren und „das Anfang und Ende außer Acht“ zu lassen, sei nicht im Sinne des christlichen Menschenbildes: „Jeder gehört zu uns. Ein Stückchen sind wir alle alt oder behindert. Wenn wir einmal anfangen abzuschneiden, wer normiert dann, wer noch dazugehört und wer nicht?“
Abwägen sei aber auch in anderen Lebensbereichen wichtig. Gegner gleichgeschlechtlicher Ehen hätten ebenso gute Argumente wie deren Befürworter, wenn sie von verantwortungsvollen Partnerschaften sprächen. Merkel betonte: „Wir wollen den besonderen Schutz der Ehe, aber wir haben auch immer wieder darum gerungen und uns ganz klar gegen die Diskriminierung anderer Lebensformen ausgesprochen.“ Das C im Parteinamen sei nicht ausgrenzend gemeint gewesen. „Die CDU ist offen für alles“, erklärte Merkel, „aber Offenheit darf nicht verwechselt werden mit Beliebigkeit“. Die Orientierung am christlichen Menschenbild stehe nicht zur Disposition.
„Ich stehe an der Seite der Kirchen“
Für die politische Praxis bedeute dies, dass „ich an der Seite der Kirchen stehe, wenn es um deren Rolle in unserer Gesellschaft geht.“ Ohne die Kirche und den christlichen Glauben seien die Voraussetzungen nicht da, von denen der freiheitliche säkularisierte Staat lebe. „Es ist in unserem Interesse, starke Kirchen zu haben.“ Merkel bekannte sich zu den Kirchen, die sie mit den Wurzeln eines Baumes verglich: „Wenn ein Baum mehr Äste bekommt, wie unser Leben vielfältiger wird, muss ich die Wurzeln stärken.“
Die Bundeskanzlerin forderte weltweite Religionsfreiheit und verwies dazu auf den ersten Artikel des Grundgesetzes, „die Würde des Menschen ist unantastbar“: „Wir denken auch an die vielen Christen, die verfolgt werden. Wir erwarten, dass das, was wir an Toleranz zeigen, in gleicher Weise auch den Christen in anderen Ländern widerfährt.“
Tolerant, aber nicht beliebig
Merkel sprach sich dafür aus, dass an Schulen weiterhin bekenntnisorientierter Religionsunterricht gegeben werde. Deswegen habe sich ihre Partei auch dazu entschlossen, auch islamischen Unterricht an Schulen einzuführen. Bekenntnisunterricht könne nicht einfach durch Ethikunterricht ersetzt werden, denn das persönliche Bekenntnis biete auch „Hilfen für die eigene Lebensgestaltung und Gelegenheit, mit anderen Religionen ins Gespräch zu kommen“. Merkel sagte: „Manchmal fürchten wir uns davor, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Ich glaube, das liegt daran, dass wir über unseren eigenen Glauben gar nicht viel sagen können.“ Es sei nicht entscheidend, Bibelstellen zitieren zu könne, sondern etwas über Gott und „Jesus sagen zu können und darüber, was es mir bedeutet. Das ist die Grundlage für interreligiösen Dialog.“ Erst daraus könne Toleranz entstehen. Somit sei das christliche Menschenbild Toleranz, aber etwas anderes als Beliebigkeit. „Und daraus ergibt sich das Kämpfen für Religionsfreiheit.“
Gerade in diesem Zusammenhang sei es aber für Politiker wichtig, abzuwägen: „Wie gehe ich mit Diktaturen um, von denen ich weiß, dass sie nicht den Schutz der Würde eines jeden einzelnen erfüllen?“ Dies sei in der politischen Praxis eine Gratwanderung. Den Dialog zu vermeiden sei keine Lösung, weil sich dadurch nichts verbessere, aber auch bei der Offenheit gebe es Grenzen, wenn dadurch möglicherweise Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen könnten.
Zur Schuldenkrise sagte Merkel: „‘Macht euch die Erde untertan‘ war ja nicht so gemeint, dass wir so leben sollen, dass die nächste Generation nicht mehr leben kann. Deswegen dürfen wir nicht immer mehr Schulden machen.“ Dies sei nicht im Sinne des christlichen Menschenbildes, und deswegen eine moralische und nicht nur eine finanztechnische Frage: „Das heißt, über den Tag und über das eigene Leben hinausdenken.“
Mit dem Besuch der CDU-Vorsitzenden wurde zugleich das Landesjugendtreffen der Apis (Evangelischer Gemeinschaftsverband Württemberg e.V.) eröffnet, zu dem über 1.000 Jugendliche auf das Schönblick-Gelände kamen. Zu Beginn sprach Merkel mit den angereisten Jugendlichen. (pro)