Menschenrechtler: „Da möchte man nur noch weinen“

Martin Lessenthin kämpft seit knapp 50 Jahren für Menschenrechte auf der ganzen Welt. Nun geht er in den Ruhestand. Im Gespräch mit PRO blickt er zurück und zieht Bilanz: „Die Lage hat sich zum Teil dramatisch verschlechtert.“
Von Anna Lutz

PRO: Herr Lessenthin, Sie kämpfen seit fast 50 Jahren für Menschenrechte, ehrenamtlich und seit dem Jahr 2001 als Vorstandssprecher der „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGFM). Ist die Lage der Menschenrechte heute besser oder schlechter als vor 50 Jahren?

Martin Lessenthin: Die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen geschehen in Kriegen oder sind Folge davon. Deshalb hat sich die Lage zum Teil dramatisch verschlechtert und Hoffnungen sind zerstört worden. Russland war auf einem guten Weg, heute ist der Zustand des Landes mit der Zeit während des Stalinismus vergleichbar: Es ist hegemonistisch und imperialistisch.

Es kann nicht alles schlecht sein …

Nein, es gab auch eine positive Aufwärtsentwicklung. Die baltischen Staaten, Tschechien, Slowenien, Kroatien und weitere europäische Staaten sind heute pluralistische Demokratien. Deutschland ist wiedervereinigt. Polen hat eine funktionierende Demokratie und das gilt noch für weitere Staaten dem Machtbereich der ehemaligen Sowjetunion. Natürlich ist dort nicht alles gut, aber es gibt mehr Selbstbestimmung als zu Sowjetzeiten. Und diese Staaten stehen heute mehrheitlich auf der Seite der Ukraine. Im Gegensatz dazu stehen wir in Deutschland manchmal ganz schön auf der Leitung und sprechen mehr von Solidarität als wir sie ausleben. Dennoch: Blicken wir nach Moskau, dann sehen wir die Restauration eines autoritären und diktatorischen Systems, das mit Gewalt seine Macht wiederherstellen möchte.

Kuba, Nordkorea, Russland, China

Sie sprechen die Zerschlagung des Ostblocks an: Die globalen Bösewichte sind heute andere als damals …

Es gibt Länder des ehemaligen Sowjet-Blocks, da hat sich die Lage der Menschenrechte nie verbessert. Belarus ist das wichtigste Beispiel dafür. Auch in Nordkorea, das von China und Russland gestützt wird und wo sich eine totalitäre Familiendynastie bereits in dritter Generation behauptet, hat sich nichts zum Besseren gewendet. Ebensowenig Veränderung gibt es bisher in Kuba, einer Einparteiendiktatur mit Militärs an der Spitze, einem allmächtigen Geheimdienstapparat und weit über 1.000 politischen Gefangenen. Da hat sich nie etwas geändert. Eine riesige Gefahr geht darüber hinaus vom Iran aus, einer Islamischen Republik, die seine Lebensart nicht nur den eigenen Bürgern, sondern auch den Menschen in der Region überstülpen möchte. Der Iran ist Strippenzieher in Syrien und im Libanon. Und er ist diplomatisch, militärisch und wirtschaftlich mit den härtesten Menschenrechtsverletzern der Welt verbunden und zählt auch selbst dazu. Es sind iranische Drohnen, die Ukrainer töten, um nur ein Beispiel zu nennen.

Wer sind die größten Gefährder der Menschenrechte?

Russland unter der Führung Putins. Nordkorea und Kuba, vor allem aber auch China, das keinen freien Glauben zulässt, Konvertiten verfolgt und nach immer mehr Macht strebt. 

Zunächst inoffiziell soll Kim Jong-Un den Papst nach Nordkorea eingeladen haben. Eine Antwort steht aus Foto: Janne Wittoeck, flickr | CC BY-SA 2.0 Generic
Der nordkoreanische Diktator Kim Jong-Un gehört laut Lessenthin zu den härtesten Menschenrechtsverletzern der Welt

Christenverfolgung ist von jeher ein wichtiges Thema für Sie. Ist die Lage der Christen weltweit in den letzten 50 Jahren besser oder schlechter geworden?

Sie ist in einigen Ländern schlechter geworden. Im vom Krieg erschütterten Irak oder Syrien zum Beispiel. Deshalb kommen viele Christen und Angehörige anderer Minderheiten von dort zu uns. Die Intoleranz gegenüber Konvertiten in der Türkei ist größer geworden. Die Situation der koptischen Christen in Ägypten hat sich trotz der Beteuerungen von Staatschef Abd al-Fattah as-Sisi nicht verbessert. Dort werden weiterhin christliche Mädchen entführt und zwangskonvertiert. Christen, die öffentlich auftreten, werden inhaftiert und oft ohne öffentliche Anklage über Jahre hinweg festgehalten. In Indien gibt es eine harte Verfolgung von Christen und anderen Minderheiten durch Hindu-Extremisten.

„Länder, in die wir am liebsten gar nicht mehr hineinschauen wollen“

Was bewegt Sie besonders?

Es gibt noch jene Länder, in die wir am liebsten gar nicht mehr hineinschauen wollen, weil wir zermürbt sind: Afghanistan und Pakistan etwa. Die wenigen Christen, die es in Afghanistan noch gibt, leben im Untergrund. Die Menschenrechtsverletzungen sind so hart, dass man nur noch weinen möchte, gerade auch im Hinblick auf die Unterdrückung von Frauen. Mädchen müssen nach der sechsten Klasse die Schule verlassen, damit sie unterwürfige und „dumme Heimchen“ am Herd werden, die von den Taliban benutzt werden können. Hier schaut der Westen heute weg, auch Deutschland. Wenn ich sagen müsste, was die größte menschenrechtliche Enttäuschung in all den Jahren für mich war, würde ich sagen: Das Aufgeben in Afghanistan. Ein Verrat an den Minderheiten und an den afghanischen Frauen.

Die Welt ist in den vergangenen 50 Jahren mehr zusammengewachsen, globaler geworden. Was Sie sagen, klingt, als gebe es dennoch keinen gemeinsamen Kampf für bessere Menschenrechte.

Ich vermisse ein stärkeres gemeinsames Eintreten. Unsere Hoffnung liegt heute eher in jenen Medien, die auch von Diktatoren nicht zu 100 Prozent kontrolliert werden können. Wissen ist der Schlüssel für mehr Menschenrechte. Wer seine Rechte nicht kennt, kann auch nicht dafür kämpfen. Information und Meinung sind der Anfang, davon ist am Ende auch Glaubensfreiheit abhängig. Denn ein Nordkoreaner muss erstmal herausfinden können, dass es andere Religionen als den eingebläuten Glauben an die Familie Kim gibt. Und dass ein Christentum, das von den Herrschenden als Bedrohung dargestellt wird, in Wahrheit seine Hoffnung sein kann. Wir können also hoffen, dass eine technologische Fortentwicklung, die immer mehr Länder erreicht, zu einer besseren Lage der Menschenrechte beiträgt. Um ein Beispiel zu nennen: Viele Kubaner besitzen ein Smartphone und finden Nischen, um an Informationen zu gelangen. Nur deshalb gibt es dort regierungskritische Proteste.

Foto: Matt Hrkac | CC BY 2.0 Generic
Proteste gegen das iranische Regime

Hoffnung für den Iran

Die mediale Revolution hat den Iran in den vergangenen Jahren nicht umgekrempelt. Ist die Hoffnung auf Neue Medien nicht zu kurz gegriffen?

Die Mullahs erfahren Unterstützung durch Russland und aus anderen Staaten. Das macht es ihnen leichter, Druck auf die Bevölkerung auszuüben. Die Weltlage hat die Ereignisse im Iran verlangsamt. Aber es kocht unter der Oberfläche weiter. Es kann durchaus sein, dass wir dort in den kommenden Jahren erleben, dass sich die Frauen und Männer selbst befreien. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. 

„Wir und der Westen müssten auf dem internationalen Parkett konsequenter sein. Man muss Autokraten und Diktatoren klar machen, dass sie keine legitimen Vertreter des Volkes sind und dass sie bestimmte Grenzen nicht überschreiten dürfen.“

Martin Lessenthin im Gespräch mit PRO

Müsste die Bundesregierung die Iraner stärker unterstützen?

Ja. Wir und der Westen müssten auf dem internationalen Parkett konsequenter sein. Man muss Autokraten und Diktatoren klarmachen, dass sie keine legitimen Vertreter des Volkes sind und dass sie bestimmte Grenzen nicht überschreiten dürfen. Derzeit sind deutsche Staatsbürger im Iran vom Tode oder Langzeithaftstrafen bedroht. In solchen Fällen ermüdet die deutsche Diplomatie zu schnell. Die Themen müssen immer wieder auf die Tagesordnung und ins Gespräch, sodass die iranische Regierung gar keine Verschnaufpause hat. Auch das deutsche Botschaftspersonal im Iran muss entschlossener agieren und darf sich nicht abspeisen lassen, etwa wenn die Zuständigen nicht über Gerichtsprozesse informieren oder Verhandlungen einfach verlegen. Die Vertreter Deutschlands müssen da immer nachfassen, damit Schauprozesse oder Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit gar nicht mehr möglich sind. 

Über all die Jahre hinweg, wo haben Sie besonders viel erreichen können?

Wir haben mitgeholfen, dass politische Gefangene und Glaubensgefangene freigekommen sind. Ich denke an die Freilassung des Menschenrechtsanwalts Abdolfattah Soltani, die Freilassung der iranischen Pastoren Saeed Abedini und Yousef Nadarkhani, auch wenn letzterer wieder inhaftiert ist. Besonders bewegt hat mich die Freilassung der kubanischen politischen Gefangenen aus der Gruppe der 75…

…rund 80 Regimekritiker, darunter auch Journalisten …

In diesen Fällen konnten wir ganz konkret Personen helfen, die auch symbolisch für andere Menschenrechtsverteidiger oder verfolgte Christen im Iran stehen. So hoffen wir, dass diese Fälle auch Hafterleichterungen für andere ermöglichen. Noch etwas sehr Positives fällt mir zu unserer Arbeit in Deutschland ein: Die Einführung des Amtes eines Beauftragten der Bundesregierung für Religionsfreiheit im Jahr 2018. Wir wünschen uns, dass von diesem Amt auch weiterhin Impulse in die Welt gehen, um Verfolgten zu helfen.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Wo müsste sich die Welt stärker für Verfolgte und Unterdrückte einsetzen?

Wirtschaft, Politik und Gesellschaft müssten dort stärker zusammenarbeiten, wo Menschenrechte unterdrückt werden. Wenn ein deutsches Unternehmen einen Deal in Saudi-Arabien oder Quatar machen möchte, wo religiöse und Frauenrechte in schlimmster Weise verletzt werden, dann sollte die Regierung eingreifen. Es müsste ein Monitoring geben, das offenbart, was Konzerne wie VW in China machen und wie sie damit etwa die Unterdrückung von Uiguren und Andersdenkenden unterstützen. Aber auch wir ganz normalen Bürger sollten überlegen, aus welchen Ländern wir Waren kaufen und in welchen Ländern wir Urlaub machen und wo wir damit Menschenrechtsverletzungen unterstützen. Wer verdient an meinem Hotel, einer Surf-Schule, Tauchschule, dem Kamelrennen und der Jeep-Safari? Ist die Urlaubsinsel wirklich eine Traum- oder eher eine Gefängnis- und Alptrauminsel? Und einen Wunsch habe ich noch: Wir müssen der Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen laut entgegentreten. Es gibt immer wieder Leute, die sagen, in Deutschland könne man nicht frei leben. Es gebe hier keine echten Menschenrechte. Das ist eine krasse Ignoranz gegenüber bedeutenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen! Gemessen an Folter, Zwangsadoptionen, Missbrauch oder Zwangskonversionen weltweit ist das geradezu zynisch.

Herr Lessenthin, vielen Dank für das Gespräch!

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