Medizinethiker: „Bedarf an assistiertem Sterben wächst“

Am Mittwoch urteilt das Bundesverfassungsgericht über das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe. Ärzte wollen in der Frage Klarheit, ob ärztliche Suizidhilfe im Einzelfall straffrei bleibt. Nach Ansicht von Medizinern ist das nicht eindeutig geregelt. Alfred Simon, Leiter der Akademie für Ethik in der Medizin, erwartet, dass der Bedarf an assistiertem Sterben wächst.
Von Norbert Schäfer
Der Medizinethiker Alfred Simon leitet die Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen

Am 26. Februar urteilt das Bundesverfassungsgericht über das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe nach Paragraf 217 des Strafgesetzbuches. Gegen das Gesetz haben Ärzte Verfassungsbeschwerde eingelegt, ebenso schwerkranke Menschen, aber auch Sterbehilfevereine.

Die beschwerdeführenden Ärzte stützen sich auf eine Verletzung der im Grundgesetz zugesicherten Gewissens- und Berufsfreiheit und beanstanden die Reichweite des Gesetzes. Der Paragraf stellt nach Ansicht der Ärzte nicht hinreichend sicher, dass die im Einzelfall geleistete ärztliche Suizidhilfe straffrei bleibt. Die Ärzte wollen auch Klarheit in der Frage, ob der Paragraf bislang straffreie Formen der Sterbehilfe wie indirekte Sterbehilfe und Behandlungsabbruch und die Palliativmedizin berührt. Nach Ansicht der Mediziner verhindert die Strafrechtsnorm eine Behandlung, die sich am Wohl des Patienten orientiert.

Zwei von drei Deutschen würden eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe befürworten. Das hat eine Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov gezeigt. 67 Prozent der Befragten sprachen sich in der repräsentativen Studie für aktiven Sterbehilfe aus, 17 Prozent waren dagegen. Der Rest antwortete mit „weiß nicht“ oder machte keine Angabe. Mit 72 Prozent gab es in Ostdeutschland mehr Befürworter als in Westdeutschland (65 Prozent).

pro: Herr Simon, unser Kulturkreis gewährt einen hohen Freiheitsgrad, wenn es um ungeborenes Leben geht. Etwa beim Abbruch einer Schwangerschaft. Ist damit am Ende des Lebens nicht ein Tor geöffnet, durch das jeder selbstbestimmt aus dem Leben scheiden kann?

Alfred Simon: Ich würde die Analogie anders ziehen. Es gibt hier auch eine zunehmende Zahl der Wunschkaiserschnitte. Immer mehr Kinder kommen so zur Welt. Das ist Ausdruck des Umstandes, dass alles geplant wird. Geplant wird, wann das Kind zur Welt kommt. Und genauso ist es auch am Lebensende. Viele Menschen möchten irgendwann selbst bestimmen, wann das Leben zu Ende geht. Dass ist eine Anspruchshaltung, die immer mehr kommen wird. Darauf müssen wir uns als Gesellschaft gefasst machen. Und diese Anspruchshaltung werden wir auch nicht mit palliativen Angeboten lösen. Darum glaube ich, dass der Bedarf an assistiertem Sterben in den nächsten Jahren wachsen wird.

Worum geht es eigentlich, wenn von Sterbehilfe gesprochen wird?

Mir ist zunächst die Unterscheidung zwischen Sterbebegleitung und Sterbehilfe wichtig. Unter Sterbebegleitung fällt die Begleitung eines Sterbenden einschließlich der notwendigen palliativen, schmerztherapeutischen Maßnahmen. Diese dürfen durchgeführt werden, selbst wenn im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie auch lebensverkürzend sein können. Das wird als indirekte Sterbehilfe bezeichnet, hat aber in meinen Augen mit Sterbehilfe im eigentlichen Sinne nichts zu tun.

Unter Sterbehilfe fallen die „Tötung auf Verlangen“, der sogenannte „Behandlungsabbruch“ und der „assistierte Suizid“. Eine „Tötung auf Verlangen“ wäre, demjenigen, der sterben möchte, das tödlich wirkende Medikament direkt zu verabreichen. Zum Beispiel durch eine Spritze. „Töten auf Verlagen“ wurde früher als aktive Sterbehilfe bezeichnet und ist in Deutschland verboten.

Ein Behandlungsabbruch bedeutet, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten, weil der Patient sie ausdrücklich nicht möchte. Das wurde früher als passive Sterbehilfe bezeichnet. Der Arzt beginnt zum Beispiel eine Beatmung, eine künstliche Ernährung nicht oder beendet diese Maßnahme auf Wunsch des Patienten. Das ist in Deutschland erlaubt.

Ein „Assistierter Suizid“ wäre, der Person ein Mittel zur Selbsttötung zur Verfügung zu stellen – dieses jedoch nicht zu verabreichen. Das ist in Deutschland im Einzelfall möglich, stellt aber für Ärzte eine rechtliche Grauzone dar.

Vor welchen Herausforderungen stellt die aktuelle Gesetzeslage die Ärzteschaft?

Wenn der Patient sagt, er möchte eine bestimmte Behandlung nicht, dann darf sie auch nicht gegen seinen Willen durchgeführt werden – vorausgesetzt, wir haben es mit einem einwilligungsfähigen Patienten zu tun. Für den assistierten Suizid haben wir seit Ende 2015 eine gesetzliche Regelung, die zwar die Suizidhilfe im Einzelfall weiter ermöglicht, aber die geschäftsmäßige, das heißt auf Wiederholung hin angelegte, Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt. Das Problem für Ärzte besteht nun darin, dass das Gesetz nicht genau sagt, ab wann eine geschäftsmäßige Suizidhilfe vorliegt: Bleibt der Arzt beim ersten Mal straffrei und wird er erst ab dem zweiten Mal bestraft? Darf er auch mehrmals im Einzelfall Suizidhilfe leisten? Und was, wenn ein solcher wiederholter Einzelfall nicht nach drei Jahren, sondern bereits nach drei Monaten eintritt? Hinzu kommt, dass nicht klar ist, ob auch palliative Maßnahmen, wie zum Beispiel die Begleitung eines Patienten beim sogenannten Sterbefasten (Anmerkung: Der Patient verzichtet bis zum Eintritt des Todes vollkommen auf Nahrung und Flüssigkeit), unter das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe fallen. Das Gesetz ist also handwerklich schlecht gemacht und schafft mehr Probleme als es löst.

Was bedeutet das Gesetz für schwerkranke Menschen?

Das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe zielte auf die organisierte Suizidhilfe durch Vereine und einzelne Sterbehelfer. Das Bundesverwaltungsgericht und auch der Bundesgerichtshof haben bestätigt, dass es ein Recht auf Suizid angesichts schwerer Erkrankung gibt. Das Verbot bewirkt, dass Ärzte wegen der rechtlichen Unsicherheit in dieser Grauzone nicht mehr Suizidhilfe leisten möchten, weil sie strafrechtliche Verfolgung fürchten müssen. Damit hat der Bürger gar nicht mehr die Möglichkeit, jemanden zu finden, der ihm bei der Verwirklichung seines Grundrechts auf Suizid dann auch unterstützt.

Wie würde die ideale Rechtsnorm für die Mediziner aussehen?

Die ideale Lösung 2015 wäre gewesen, gar kein Gesetz zu machen. Die Ärzte hatten keine strafrechtlichen Einschränkungen, was die Hilfe bei einem freiverantwortlichen Suizid betraf. Es gab in Deutschland keinerlei Anzeichen, dass das in irgendeine falsche Richtung geht. Bislang waren die Aktivitäten der Sterbehilfevereine, auf die das Gesetz abzielt, kaum von Bedeutung. Es bestand aus meiner Sicht noch kein akuter Handlungsbedarf. Ganz anders sieht das in der Schweiz oder in anderen Ländern aus.

Wenn der Gesetzgeber verhindern möchte, dass durch die Aktivität der Sterbehilfevereine der Eindruck entsteht, Suizidhilfe sei etwas völlig Normales, dann würde ich das Anliegen teilen. Aber das muss man nicht strafrechtlich regeln. Das hätte durch Werbeverbote geregelt werden können oder durch ein flächendeckendes Angebot von Palliativmedizin und Hospizarbeit.

Wie wird nach Ihrer Einschätzung das Verfassungsgericht urteilen?

Schwierig zu sagen. Sicher ist, dass das Bundesverfassungsgericht Kritik am Gesetz üben wird. Ob es aber tatsächlich das Gesetz als Ganzes kippt, vom Gesetzgeber Nachbesserungen einfordert oder selbst eine verfassungskonforme Interpretation des Gesetzes – insbesondere der Frage, was eine geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung darstellt und was nicht – bleibt abzuwarten.

Wie regeln andere Länder die Sterbehilfe?

In Oregon und in sieben weiteren US-Bundesstaaten gibt es Gesetze, die regeln, unter welchen Voraussetzungen ein Arzt Suizidhilfe leisten darf. In den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und seit letztem Jahr auch in Kanada, dürfen Ärzte unter vergleichbaren Voraussetzungen auch eine „Tötung auf Verlangen“ durchführen. Diese Länder haben aber auch eine andere Vergangenheit als Deutschland. Gerade in den Niederlanden hat sich seit den Siebzigerjahren eine gewisse Tendenz entwickelt, dass Fälle der „Tötung auf Verlangen“ auch von Gerichten akzeptiert worden sind. Das entspricht der Grundhaltung der Niederlande. Der Staat möchte sich dort nicht in die Belange der Bürger einmischen, sofern nicht Dritte davon betroffen sind. Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen gehören dazu, sind eine Sache, die nur den Arzt und seinen Patienten was angeht. Für Deutschland sehe ich aktuell keinen Bedarf für eine weitere Ausweitung der Gesetze in Richtung der „Tötung auf Verlangen“.

Vielen Dank für das Gespräch!

Alfred Simon ist Medizinethiker und leitet die Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen. Er ist der Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees der Universitätsmedizin Göttingen und Mitglied in diversen Gremien, u.a. im Ausschuss für ethische und medizinisch-juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer.

Am Dienstag, dem 18. Februar, geht eine Veranstaltung mit Alfred Simon in der Evangelischen Akademie Frankfurt der Frage nach, ob Ärzte einem Patienten helfen dürfen, ihr Leben zu beenden. Zu der Veranstaltung wird ein Livestream angeboten, für den eine Anmeldung erforderlich ist.

Von: Norbert Schäfer

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