Lust am Lockdown?

Medienforscher machen die Berichterstattung mitverantwortlich für den Corona-Lockdown. Zu viel in der Menge, zu unkritisch hinsichtlich der Maßnahmen. An Vertrauen haben Nachrichtenmedien trotzdem gewonnen.
Von Jonathan Steinert
Der Lockdown soll die Ausbreitung des Coronavirus bremsen

Als im Oktober die Zahl der positiv auf Corona Getesteten immer stärker anstieg und auch die Werte vom Frühjahr erstmals übertroffen wurden, hatten zwei Wörter in den Schlagzeilen Konjunktur: „Rekord“ und „Höchstwert“. Fast jeden Tag meldeten die Nachrichtenseiten und -sendungen neue Rekordinfektionszahlen. Die Richtung der Entwicklung war klar: nach oben. Aber war es notwendig, jeden Tag einen neuen „Höchststand“ zu vermelden, wenn doch absehbar war, dass er am nächsten Tag wieder gebrochen werden würde und am darauffolgenden wieder? Viele Journalisten waren offenbar dieser Auffassung.

Und so ging es von Rekord zu Rekord, zum Lockdown, zu neuen Farben in Infografiken, weil die bisherigen nicht ausreichten, um das Infektionsgeschehen abzubilden – auch wenn Grenzwerte, die bis dahin das Kriterium farblicher Abstufung waren, ohnehin allesamt weit überschritten wurden.

Wenige Tage vor den November-Einschränkungen, am 26. Oktober, erschien auf der Website der Süddeutschen Zeitung ein Beitrag des Medienforschers und emeritierten Professors Stephan Russ-Mohl. Titel: „Das Corona-Panikorchester“. Darin kritisiert er die Nachrichtenmedien für eine angstmachende Berichterstattung über die Pandemie und ein Zu-viel an Aufmerksamkeit für dieses eine Thema. Seine These: Die Medien haben „mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten“. Dabei bezieht er sich allerdings auf die Situation im Frühjahr.

Nach Analysen des Instituts für empirische Medienforschung in Köln machten Corona-Themen im März und April einen Anteil von 60 bis 70 Prozent an der gesamten Berichterstattung von „Tagesschau“ (ARD) und „heute“ (ZDF) aus. „In einem nie gekannten Übermaß hat ein einziges Thema im Mittelpunkt gestanden“, sagt Russ-Mohl gegenüber pro. Das erzeuge Angst und Panik, etwa wenn täglich neue Statistiken präsentiert würden, ohne einzuordnen, wie hoch das Ansteckungsrisiko für den Einzelnen sei. Zudem würden Medien mit einer solchen Fokussierung ihrem Auftrag nicht gerecht, einen breiten Überblick über das Weltgeschehen zu liefern.

Das Argument der Relevanz will Russ-Mohl nur bedingt gelten lassen: Natürlich sei es ein wichtiges Thema. Aber die schiere Zahl an Berichten übersteige in jenen Monaten deutlich den Umfang der Berichte, die es seinerzeit etwa zu den Anschlägen auf das World Trade Center oder auch zur Migra­tionskrise gegeben habe. „Inzwischen sind die Blickwinkel differenzierter geworden“, stellt der Forscher fest.

Für ihn ist diese Entwicklung ein Beispiel eines typischen Medienhypes: Am Anfang – als das Virus bereits in China grassierte – wird das Thema noch weitgehend ignoriert. Dann folgt sein Aufschwung, währenddessen die Berichterstattung kaum andere Themen oder breitere Sichtweisen einbezieht, wie es im Frühjahr zu beobachten war. Derzeit, schätzt Russ-Mohl, dauere eine Umschwung-Phase an, die Perspektive wird wieder geweitet. Aus seiner Sicht spielt auch die menschliche Neigung eine Rolle, sich in unsicheren Zeiten und Krisen an anderen zu orientieren, vorzugsweise an Alphatieren – im Falle der Corona-Krise etwa dem Virologen Christian Drosten, dem Robert-Koch-Institut sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dieses Herdenverhalten habe sich vor allem, aber nicht nur zu Beginn der Pandemie auch in den Redaktionen des Landes gezeigt.

Katastrophen-Narrativ dominiert

Studien des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich zeigten für die Schweiz zwar keine wohlwollende Haltung des Journalismus gegenüber der Regierung, allerdings „eine zu unkritische Haltung der Medien in der sensitiven Phase kurz vor dem Lockdown“. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Maßnahme sei ausgeblieben. Das Fazit der Forscher: „Die Informationsmedien haben dadurch mitgeholfen, den Lockdown vorzubereiten und zu legitimieren.“

Klaus Meier, Journalistik-Professor an der Katholischen Universität Ingolstadt-Eichstätt, hält diese Ergebnisse für übertragbar auf Deutschland. Und auch auf den Herbst. Corona sei neben der US-Wahl das bestimmende Thema gewesen. Diese Wucht der Berichterstattung mache es der Politik leichter, auch strenge Maßnahmen durchzusetzen. Wenngleich Meier ebenfalls betont, dass die Berichterstattung im Herbst weniger dramatisch und inhaltlich vielstimmiger war als im Frühjahr. Dennoch vermisst er tiefere Recherche, einordnende Daten und Erklärungen, anstatt die Entwicklung der Infektionszahlen wie den Pegelstand einer unaufhaltsamen Flutkatastrophe durchzugeben.

Journalisten sollten auch mehr hinterfragen, welcher Experte was mit welchem Interesse über die Pandemie und die Maßnahmen sagt. Welche Eigeninteressen vertreten etwa Krankenhausleiter, wenn sie sich zu Wort melden? So etwas deutlich zu machen, sei Aufgabe der Journalisten, erklärt Meier. Allerdings stellt er auch fest: Gut recherchierte, kritische Hintergründe setzten sich im Nachrichtenfluss oft nicht durch, erhielten nur begrenzte Aufmerksamkeit. Etwa dass der Bayerische Rundfunk Anfang November aufdeckte, dass die Landesregierung offenbar wegen Missverständnissen zu hohe Zahlen zu den beatmeten Corona-Patienten nannte.

Das in der Berichterstattung vorherrschende Narrativ laute: Wir müssen die Katastrophe verhindern. Das führe laut Meier etwa dazu, dass in der Bevölkerung „das Risiko, schwer an Corona zu erkranken, extrem überschätzt wird“. Meiers Beobachtung zufolge unterscheiden sich vor allem lokale und regionale Medien davon. Sie verbreiteten weniger das Katastrophen-Narrativ, sondern schauten stärker auf die konkrete Situation vor Ort.

Bei aller Kritik möchte Meier aber betonen, dass die Berichterstattung in ihrer Fülle und Vielfalt sehr gut sei. Das zeigten auch die Zahlen, die ein wachsendes Vertrauen in journalistische Medien bestätigten. Eine Studie, die infratest Dimap im Auftrag des WDR seit 2015 jährlich durchführt, hat im Oktober nämlich auch einen Höchstwert ermittelt – an Glaubwürdigkeit der deutschen Medien. 67 Prozent der 1.000 Befragten gaben an, dass sie die Medien für glaubwürdig halten, allen voran die öffentlich-rechtlichen. Auch die Corona-Berichterstattung wurde ganz überwiegend als gut oder sehr gut bewertet.

Von: Jonathan Steinert

Dieser Text erschein zuerst in der Ausgabe 6/2020 des Christlichen Medienmagazins pro. Sie können das Heft kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 06441/56677-00.

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