Journalismus, Social Media und ein omnipräsentes Virus

Was lässt sich aus der Coronakrise über den Wert von journalistischer Berichterstattung und Social-Media-Beiträgen sagen? Die folgenden fünf Erkenntnisse wollen dazu eine erste Antwort geben, sie basieren unter anderem auf einem knappen Monat des kritischen Corona-Medienkonsums in Österreich. Eine Analyse von Raffael Reithofer
Von PRO
Die österreichische Zeitung FALTER spielte die Angst vor Corona Anfang März noch herunter

Letzten Donnerstag um halb zwei Uhr nachts postete der wohl bekannteste Fernsehjournalist Österreichs, Armin Wolf, auf Twitter ein Foto von seiner Zahnbürste. Der ungewöhnliche Hintergrund des Bildes: der menschenleere Newsroom des ORF-Zentrums am Wiener Küniglberg. Denn gemeinsam mit über 50 anderen ORF-Mitarbeitern aus Redaktion und Technik übernachtet der Mittfünfziger Wolf, der für seine kritischen Interviews als Moderator der Spätnachrichtensendung ZIB 2 beim Publikum beliebt und von Politikern manchmal gefürchtet ist, in den nächsten vierzehn Tagen in einem provisorisch eingerichteten Isolationsbereich im ORF-Zentrum. Der Sinn dahinter, dass sich eine ganze Sendemannschaft in die von Wolf mit Augenzwinkern „Corona-WG“ genannte freiwillige Selbstisolation begibt, liegt darin, dass der ORF seinen Sendebetrieb auf Biegen und Brechen aufrecht erhalten möchte und nicht etwa schließen müssen, weil sich ein Mitarbeiter mit dem Coronavirus infiziert und somit mitsamt alle seine Kontaktpersonen unter Quarantäne gestellt werden. Seriöse Medien, das zeigt sich an diesem Beispiel nämlich besonders eindringlich, gehören genauso wie Supermärkte, Energieversorger und Internetprovider zur kritischen Infrastruktur eines Landes – gerade auch in Zeiten von Social Media, wo sich seit Ausbruch der Krise eine bemerkenswerte Häufung von Gerüchten, kruden Verschwörungstheorien und Fake News verschiedenster Art bemerkt gemacht hat. Aber mehr dazu später.

Insgesamt ergeben sich für den kritischen Nachrichtenkonsumenten bei der Verfolgung der Berichterstattung zur Coronakrise durchaus neue Erkenntnisse über die Rolle der Medien in Zeiten einer großen internationalen Krise. Dazu im Folgenden die fünf Erkenntnisse zu Medien und Corona. Diese verstehen sich jedoch nicht als allgemeingültige Wahrheiten, sondern vielmehr als erste Anknüpfungspunkte mitten in einer dynamischen Situation.

Erste Erkenntnis: Drei gesellschaftliche Funktionen des Journalismus

Gerade in einer so großen Ausnahmesituation wie der jetzigen, die nach allem, was wir bisher wissen, zudem nur mit starken Einschränkungen der persönlichen Freiheit überwunden werden kann, braucht es neben handlungsfähigen Politikern und vertrauenswürdigen Experten vor allem auch seriöse Medien. Diese dienen nämlich dazu, die Krise begreifbar zu machen, die Maßnahmen der Politik kritisch, aber fair zu beobachten und den Bürgern klarzumachen, wie wir der Krise Herr werden können. Laut dem deutschen Medienwissenschaftler Stephan Ruß-Mohl hat der Journalismus in einer Demokratie unter anderem die folgenden drei Funktionen: Erstens, die Bevölkerung zu informieren, „damit wir alle unseren Alltag bewältigen und insbesondere in unserer Doppelrolle als Marktteilnehmer und Staatsbürger die nötigen Entscheidungen sachgerecht treffen können“. Zweitens Sachverhalte zu artikulieren, um idealerweise „als ‚Frühwarnsystem’ der Gesellschaft zu dienen“. Und drittens, das Geschehen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft kritisch zu hinterfragen, Ruß-Mohl nennt das „Kritik- und Kontrollfunktion“. Alle drei journalistischen Funktionen sind gerade in der Berichterstattung zur Coronakrise unabdingbar. Ein gutes Beispiel für die Informationsfunktion ist etwa der tägliche Coronavirus-Podcast auf NDR Info mit Christian Drosten, der die neuesten Fachinformationen zum Virus, zur Pandemie und zu adäquaten Gegenmaßnahmen einem medizinischen Laien verständlich macht, auf die Artikulationsfunktion und auf die Kritik- und Kontrollfunktion kommen wir in den Erfahrungen vier und fünf noch einmal zurück.

Zweite Erkenntnis: Mangelnde Qualitätskontrolle auf Social Media

Journalistische Medien unterliegen einer redaktionellen Qualitätskontrolle, einerseits dadurch, dass ihre Autoren dazu angehalten sind, sachgerecht zu recherchieren und insbesondere heikle Information lieber noch ein zweites oder gar drittes Mal zu prüfen, andererseits dadurch, dass Kollegen ihre Texte vor der Veröffentlichung noch einmal sprachlich und inhaltlich redigieren, also gegenlesen – in Printmedien geschieht das oft mehrmals und zuletzt von der Chefredaktion. Bei sozialen Medien, die von Computern aggregiert werden, fehlt eine effektive Qualitätskontrolle hingegen völlig. Verschwörungstheorien, Gerüchte und Fake News verbreiten sich dort häufig unkontrolliert, emotionalisierende Inhalte werden von den Algorithmen, die die Nutzer möglichst lange auf der Seite halten möchten, zudem oft auch noch verstärkt – auch wenn sie falsch sind. Bemühungen der Plattformbetreiber, Fake News einzudämmen ändern daran im Großen eher wenig.

Der Chef der Faktencheckerplattform Mimikama, Tom Wannenmacher, spricht im Telefoninterview mit pro von einer zwischenzeitlichen Welle an Fake News, die zwischen dem 13. und dem 16. März ihren Höhepunkt fand und sich an hunderten E-Mail-Anfragen in seinem Postfach und einem stark erhöhten Zugriff auf die Website zeigte. Inzwischen hat sich die Lage bei Mimikama quantitativ wieder beruhigt, allerdings sei Corona weiterhin mit Abstand das wichtigste Thema der Website. Wannenmachers Interpretation im Nachhinein: „Die Leute haben Angst gehabt und haben daher Schutz und Hilfe gesucht.“ Die Richtigstellung von Falschnachrichten scheint also mitunter durchaus einen psychologischen Beruhigungseffekt zu haben, so jedenfalls die Interpretation eines erfahrenen Faktencheckers. Dass Falschmeldungen in der Krise zu irrationalen Handlungen führen können, zeigt das Gerücht von Supermarktsperren, das sich in Österreich im Vorfeld des 13. März verbreitete – jenes Freitags, an dem die Regierung des Landes weitgehende Ausgangsbeschränkungen verkündet hat. Wegen dieses Gerüchts kam es nämlich zu Hamsterkäufen in den Supermärkten, vorübergehend war etwa das Toilettenpapier ausverkauft. Wegen des Ansturms mussten zwischenzeitlich sogar Soldaten den Handelsketten dabei helfen, die weitgehend vollen (!) Lagerbestände wieder in die einzelnen Supermärkte zu karren. Diese Aufregung hätte man sich sparen können, hätten sich mehr Bürger auf seriöse Nachrichten verlassen, denn die Regale in den Supermärkten sind trotz Krise weiterhin prall gefüllt.

Dritte Erkenntnis: Publizistische Hochkonjunktur trifft auf ökonomische Krise

Gerade in einer Zeit, wo das Handeln der Regierungspolitik ungewohnt viele direkte Auswirkungen auf das Leben aller Bürger hat, steigt das Informationsbedürfnis der Bevölkerung enorm an. Das zeigt sich daran, dass neben unseriösen Informationen derzeit auch seriöse Nachrichten Hochkonjunktur haben und dass sich selbst die meisten privaten Gespräche jedenfalls nach den Erfahrungen des Autors in fast schon erschreckendem Ausmaß um Corona drehen. Die journalistische Hochkonjunktur seriöser Nachrichten geht paradoxerweise aber vielfach mit einer ökonomischen Krise jedenfalls der privaten Medienhäuser Hand in Hand, denn das Inseratengeschäft bricht etwa aufgrund der geschlossenen Läden vielfach weg, zudem bieten mehrere Medien ihre Berichterstattung zur Coronakrise vorübergehend gratis an, da sie ihre publizistische Verantwortung ernst nehmen. Von politischer Seite werden daher in Deutschland und Österreich erste Rufe nach Hilfspaketen speziell für Medien laut. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zeigt sich das starke Informationsbedürfnis im Übrigen an geradezu astronomischen Quoten: In Deutschland sahen am 15. März fast 17 Millionen Bürgerinnen und Bürger die Tagesschau, im knapp zehn mal kleineren Österreich sahen am selben Tag gar 2,77 Millionen das hiesige Pendant dazu namens Zeit im Bild 1: die beste Quote seit Beginn der Messungen im Jahre 1991, wie die Zeitung Die Presse bemerkt.

Vierte Erkenntnis: „Journalistische Medien hui, Social Media pfui“ ist aber auch nicht haltbar

Dennoch wäre das Urteil „Journalistische Medien hui, Social Media pfui“ eine unzulässige Verkürzung des bisher Gesagten. Denn einerseits machen auch journalistische Medien Fehler, während gute Social-Media-Beiträge in ihrer Niederschwelligkeit eine wichtige und gute Ergänzung, seltener auch Korrektur der klassischen Berichterstattung sein können. Einige Beispiele: Vor allem Boulevard-Medien wie die deutsche Bild-Zeitung oder die Zeitung ÖSTERREICH neigen zur Überdramatisierung und müssen sich in Krisenzeiten den Vorwurf der Panikmache gefallen lassen. So titelte ÖSTERREICH am 27. Februar, zu einem Zeitpunkt, wo es gerade einmal drei bestätigte Erkrankungsfälle gab: „Die totale Corona-Panik!“.

Den wesentlich nüchterner agierenden Qualitätsmedien ist ein solches Spiel mit der Angst kaum vorzuwerfen, doch auch hier kam es in der Anfangszeit der Krise zu deutlichen Fehleinschätzungen, wenn auch in umgekehrter Richtung. Die für ihre kritische Berichterstattung bekannte Wiener Wochenzeitung FALTER spielte die Angst vor Corona etwa noch am 4. März in einem als „Geschichte einer Panikmache auf unsere Gesellschaft“ bezeichneten Aufmacher herunter. Die Zeitung räumte darin zwar ein, man dürfe das Coronavirus nicht kleinreden, schrieb im Absatz davor aber etwas, das sich wenigstens aus heutiger Sicht sehr nach Kleinreden liest: „Weltweit erkranken von rund 7,8 Millionen Menschen 87.137 am Coronavirus, darunter sind 2.977 Todesopfer zu beklagen. Damit wir das ins rechte Licht rücken: Allein im Verkehr sterben im kleinen Österreich jährlich mehr als 400 Menschen und mehr 2.000 an der Grippe.“ Der exponentiellen Ausbreitung des Virus hat der FALTER in dieser Einschätzung offenkundig viel zu wenig Beachtung geschenkt. Diese hat die Süddeutsche Zeitung eine knappe Woche später im viel beachteten Online-Feature „Die Wucht der großen Zahl“ deutlich gemacht – übrigens ein exzellentes Beispiel für die im ersten Learning erwähnte Artikulationsfunktion des Journalismus.

Dass Social-Media-Beiträge wiederum eine wichtige Ergänzung zur journalistischen Berichterstattung sein können, zeigt sich etwa an den drastischen Twitter-Berichten von Ärzten aus Italiens Krankenhäusern, die Anfang März dazu beigetragen haben, die europäische Öffentlichkeit über die vom Coronavirus ausgehende Gefahr wachzurütteln und sogar vom österreichischen Gesundheitsminister Rudolf Anschober in einer Pressekonferenz erwähnt wurden. Auch ein viel beachteter Blogbeitrag namens „Coronavirus: Why We Must Act Now“ von Tomas Pueyo, inhaltlich dem Text der SZ durchaus ähnlich, hat international zur Aufklärung über die Ausbreitung des Coronavirus und zur Akzeptanz der Gegenmaßnahmen beigetragen. Viel kleiner, aber trotzdem wichtig sind zudem Beiträge von Hausärzten, die über mangelnde Schutzmasken klagen, von Juristen, die sich Gedanken zur Legalität der gegenwärtigen Maßnahmen machen, von Krankenschwestern, die die Bevölkerung dazu aufrufen, zuhause zu bleiben, von Supermarktmitarbeitern, die sich mehr Verständnis von ihren Kunden wünschen – allesamt leisten derart bedachte und durchdachte Postings einen Beitrag zur ausgewogenen Betrachtung der aktuellen Pandemie.

Fünfte Erkenntnis: Krisenjournalismus zwischen Kritik und Schulterschluss

Es ist ein Gemeinplatz der Sozialpsychologie, dass ein gemeinsamer Außenfeind den inneren Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe massiv steigert – auch in einer ansonsten zerstrittenen Gruppe. Die aktuelle Situation zeigt uns jedenfalls in Österreich, dass dieses Prinzip auch dann zu gelten scheint, wenn der „Feind“ ein unsichtbares Virus und die Gruppe ein Staat mitsamt seinen Bürgern, Politikern und Journalisten ist. Tatsächlich kam es in Österreich nicht nur zu ansonsten kaum denkbaren Solidaritätskundgebungen, etwa dass viele Bürger und auch die Streifenwagen der Polizei in den vergangenen Tagen jeweils um 18 Uhr die heimliche Bundeshymne „I am from Austria“ von Rainhard Fendrich gesungen bzw. abgespielt haben, sondern auch zu einem ungewohntem Zusammenhalt innerhalb der unterschiedlichen politischen Parteien. So wurde etwa das eilig erarbeitete COVID-19 Gesetz, das eine rechtliche Basis für die aktuelle Situation schaffen soll, am 15. März in beiden Kammern des österreichischen Parlaments jeweils einstimmig beschlossen und auch kommunikativ ist die üblicherweise höchst laute Regierungskritik vonseiten der Oppositionsparteien zwar nicht verstummt, aber deutlich leiser geworden. Beispielsweise sah die Chefin der oppositionellen SPÖ, Pamela Rendi-Wagner – selbst Ärztin und Epidemologin –, an den von der ÖVP-Grünen-Regierung beschlossenen Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens „aus medizinischer Sicht keine Alternative“, kritische Anmerkungen gibt es von ihr und von anderen Oppositionspolitikern vor allem zu verschiedenen Teilaspekten des Krisenmanagements, nicht jedoch zu den wichtigsten Maßnahmen im Ganzen.

Die Kritik an den politisch Verantwortlichen wird dieser Tage jedenfalls in Österreich also leiser, immer wieder ist auch von einem nationalen Schulterschluss die Rede. Für Medien stellt sich hier die Frage, wie sie damit umgehen sollen – gerade angesichts der im ersten Learning erwähnten Kritik- und Kontrollfunktion. Wo sollen sie die Regierungspolitik mittragen, wo kritisieren? Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht; faktisch wenigstens scheint die Regierungskritik auch vonseiten der österreichischen Medien leiser und auf konkrete Missstände fokussierter geworden zu sein, wie etwa dem Verdacht auf Behördenversagen im Tiroler Skiort Ischgl. Der Gründer und Herausgeber des FALTER, Armin Thurnher, empfiehlt Jorunalisten in seinen „Zehn Gedanken zum Krisenjournalismus“ unter anderem Folgendes: „Es gibt keine Pflicht zum Schulterschluss. Es gibt nur die Pflicht, dem zu dienen, was man für öffentliches Wohl hält. Das wird eine gewisse Selbstmäßigung einschließen, ebenso ein Misstrauen gegenüber dem Willen zu Durchschaltung und Gleichschaltung.“

Nachtrag: Ein Gedanke aus christlicher Sicht

Ein kurzes Bibelwort aus dem Neuen Testament mag dabei helfen, die Essenz der fünf Erkenntnisse abschließend zusammenzufassen. Paulus schließt seinen ersten Brief an die Thessalonicher unter anderem mit der Aufforderung „Prüft alles und behaltet das Gute!“ ab. Um diesen Gedanken besser auf die aktuelle Situation anwenden zu können, könnte man ihn wie folgend abwandeln: Prüft alle wesentlichen Informationen und behaltet das, was sich als seriös erweist. Das ist zugebenermaßen eine sehr freie Interpretation des biblischen Gedankens, hilft uns aber vielleicht dabei, gerade in Zeiten der globalen Gesundheitskrise einen kühlen Kopf zu bewahren. Denn insgesamt kommt es gerade jetzt darauf an, gut recherchierte Informationen von Fake News und dergleichen unterscheiden zu können.

Von: Raffael Reithofer

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