Ein Journalismus mit Perspektive

Es ist schlecht um die Welt bestellt. Diesen Eindruck kann gewinnen, wer sich in den Medien einen Überblick über die Nachrichtenlage verschafft. Eine neue Bewegung im Journalismus will die Perspektive ändern: konstruktive Lösungen aufzeigen, statt bei den Problemen stehenzubleiben.
Von PRO
Schlechte Nachrichten machen vielleicht nicht krank, aber können das Publikum auf Dauer verdrießen. Konstruktiver Journalismus will einen Schritt weiter gehen und Lösungen diskutieren.
Die Welt ist aus den Fugen, so scheint es. Die Liste der Probleme und Notlagen, über die uns Nachrichtenmedien täglich informieren, ist lang. Allein die globalen Themen wie der Wandel des Klimas, die Kriege in verschiedenen Ländern, Terrorismus, Hunger oder Flüchtlingsbewegungen zeigen, dass es gewaltiger Anstrengungen bedarf, um dabei nicht den Überblick zu verlieren und auch Lösungen für Probleme zu finden. Das dachten sich auch die Münsteraner Neurowissenschaftlerin Maren Urner und ihr niederländischer Kollege Han Langeslag: Es gibt Probleme, es braucht Lösungen, die gilt es zu diskutieren. Dafür gründeten sie zusammen mit dem Physiker Bernhard Eickenberg die Online-Plattform „Perspective Daily“ für konstruktiven Journalismus: eine Berichterstattung, die nicht nur zeigt, wo es brennt, sondern auch prüft und erklärt, wie gelöscht werden kann. Jeden Tag soll dort ein Beitrag erscheinen, der sich zukunftsorientiert mit Fragen des Lebens und der Gesellschaft befasst. Nach vorne blicken, statt den Kopf in den Sand stecken, ist das Ziel. Finanziert wird das Projekt über den Jahresbeitrag der bislang rund 14.000 Mitglieder von je 42 Euro im ersten Jahr. 2015 zeichnete die Bundesregierung das Projekt als „Kultur- und Kreativpiloten“ aus. Wenn wir die Welt als aus den Fugen geraten wahrnehmen, dann vor allem, weil wir aus den Medien davon erfahren. Sie prägen mit ihrer Berichterstattung das Bild von der Welt – nicht allein und ausschließlich und für jeden auf dieselbe Weise, aber zu vielen Themen sind Medien der einzige Zugang. Das kann dazu führen, dass man – geprägt von der Weltbeschreibung durch die genutzten Medien – die Wirklichkeit falsch einschätzt. Das wiederum spiegelt sich in der Meinungsbildung und im Handeln wider. Das Medienforschungsinstitut Media Tenor etwa hat für den Zeitraum zwischen Dezember 2013 und 2015 festgestellt, dass der Islam und muslimische Organisationen zum einen mehr als dreimal so oft in deutschen Medien vorkamen wie die christlichen Kirchen, und zum anderen vor allem in negativen, problematischen Zusammenhängen wie Terror und Gewalt dargestellt wurden. „Die Flut der Berichte über Gewaltakte schürt die Furcht vor dem Islam immer weiter und ist damit auch Wasser auf die Mühlen fremdenfeindlicher Parteien. Auf die lange Sicht untergräbt diese Entwicklung aber auch das Vertrauen in Religion allgemein“, resümierte der Leiter der Studie, Christian Kolmer.

Wer den Schaden hat, ist interessant

Das britische Marktforschungsinstitut Ipsos Mori kam 2014 zu dem Ergebnis, dass die Deutschen beispielsweise den Anteil von Migranten an der Bevölkerung um zehn, den von Muslimen um dreizehn Prozentpunkte zu hoch einschätzen im Vergleich zum tatsächlichen Wert. Ähnliche Tendenzen gibt es bei der angenommenen Zahl der Teenager-Schwangerschaften und der Über-65-Jährigen. Hingegen unterschätzen die Deutschen ebenso wie die Bürger aller anderen untersuchten Länder ihre Wahlbeteiligung. Auch wenn in dieser Erhebung kein direkter Zusammenhang hergestellt wurde: Es liegt nahe, dass die Realitätswahrnehmung etwas mit dem zu tun hat, was und wie Medien berichten. Zeichnen sie ein zu negatives Bild von der Wirklichkeit? Das ist zumindest ein Kritikpunkt, den Vertreter eines konstruktiven Journalismus vorbringen. Dass Schlagzeilen in den wenigsten Fällen erfreulich sind, liegt in der Logik der Medien. Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, heißt es. Als interessant gilt, was von der Norm abweicht – wenn das Flugzeug abstürzt, statt zu landen. Die Medienforschung hat analysiert, anhand welcher Kriterien Journalisten auswählen, über welche Themen sie wie berichten. Dabei spielen unter anderem auch der Schaden und die Kontroverse eines Ereignisses eine Rolle. Die Mediennutzer ziehen neben individuellen Einstellungen ebenfalls diese Kriterien heran, um zu beurteilen, was wichtig ist und was nicht.

Raus aus dem „Welt-geht-unter-Modus“

Doch glücklich sind sie mit schlechten Nachrichten offenbar nicht. Maren Urner zieht dafür Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft heran, in der sie zu Hause ist: „Wenn wir zu viele negative Nachrichten wahrnehmen, fühlen wir uns häufig gestresst und können in eine gelernte Hilflosigkeit geraten.“ Damit ist das durch immer wiederkehrende Erfahrungen bestätigte Gefühl gemeint, dass wir ja ohnehin nichts an der vorliegenden Situation ändern können. In der Medienstudie des Bayerischen Rundfunks vom Frühjahr dieses Jahres sagten mehr als drei von vier Befragten, die Nachrichten würden zu viel über Probleme und zu wenig über Lösungen berichten. 55 Prozent meinten, Journalisten gingen vielen Problemen nicht richtig auf den Grund. Hier möchten Urner und ihr Team ansetzen: Raus aus dem „Welt-geht-unter-Modus“, wie sie im Gespräch mit pro sagt. „Wir wollen mit den Beiträgen auf Perspective Daily zeigen, dass es Hoffnung gibt, dass wir etwas tun können.“ Das hat nichts damit zu tun, nur gute Nachrichten zu bringen oder einseitig die positiven Aspekte eines Themas zu betonen, erklärt Urner. Sie versteht Konstruktiven Journalismus auch weniger als Konkurrenz zu herkömmlichen Nachrichten, sondern als Ergänzung zur aktuellen Berichterstattung, um ein realistischeres Bild der Wirklichkeit zu zeigen. „Wir haben die gleichen Ansprüche, die es sonst im Journalismus auch gibt“, sagt Urner, die ebenso wie ihre Gründungskollegen bereits vorher als freie Journalistin gearbeitet hat. „Die zentrale Frage ist für uns: Wie kann es weitergehen?“

Konstruktiv kritisch

Schaut man sich die Themenfelder an, die Perspective Daily vor dem offiziellen Start vorstellte, wird deutlich, dass es dabei weniger um tagesaktuelle Fragen geht als um Hintergründe und den Blick auf das Morgen: Wie können wir in Zukunft gesund und glücklich leben? Wie lassen sich die globalen Folgen des Klimawandels minimieren? Wie kann ein gemeinsames Europa und das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen gelingen? Fragen wie diese will Perspective Daily mit der Unterstützung von fachlichen Experten und Gastautoren nachgehen. Grundsätzlich ist Urner der Meinung, dass jedes Thema aus einer konstruktiven Perspektive dargestellt werden kann. Selbst Terrorismus, den sie als Beispiel nennt. Hier ließe sich danach fragen, wer die Täter sind, aus welchen Motiven sie gehandelt haben, wer als Geldgeber dahintersteckt – und man würde beispielsweise dahin kommen, dass Deutschland als Handelspartner mit den Öl-Ländern im Nahen Osten sich selbst nicht gerade für die Menschenrechtslage in diesen Ländern interessiert. Es gehe nicht darum, sich selbst Lösungen für Probleme auszudenken, sondern verschiedene – häufig bereits vorhandene – Ansätze zu analysieren und zu diskutieren. Die Vertreter des konstruktiven Journalismus sagen, diese Herangehensweise mache die Berichterstattung relevanter. Aber verzerrt diese Perspektive die Realität nicht einfach in eine andere Richtung? Der freischaffende Journalist Michael Gleich ist ebenfalls ein Anhänger des konstruktiven Wegs. Er weist darauf hin, dass Journalismus ohnehin nie wirklich objektiv sei. Daher hält er „im konstruktiven Journalismus eine Haltung für angemessen, die offen zu ihrem Erkenntnis<discretionary-hyphen>interesse steht, positiven gesellschaftlichen Wandel zu begleiten“, schreibt er in einem Werkstattheft, das der Branchenzeitschrift medium magazin beiliegt. Er betont, dass diese Herangehensweise nicht dazu verleiten dürfe, unkritisch zu werden. „Statt Menschen zu heroisieren oder gar in Hofberichterstattung für ‚gute‘ Organisationen zu verfallen, brauchen wir einen offenen, analytischen Blick.“ Davon hänge letztlich auch der Ruf einer lösungsorientierten Berichterstattung ab. Bei jeder vermeintlichen Lösung müssten auch Grenzen, „Risiken und Nebenwirkungen“ in den Blick genommen werden.

Lösungen werden selten thematisiert

Die Idee, dass Journalisten über Hintergründe und Lösungen berichten, ist nicht neu, sondern gehört zum Handwerk. Politische Maßnahmen, um Währungen zu stabilisieren, werden medial genauso diskutiert wie Friedensverhandlungen, etwa in der Ukraine-Krise oder im Syrien-Konflikt. Immer wieder gibt es auch Berichte über Initiativen, die sich für eine Verbesserung einer Situation einsetzen. Jedoch liegt darauf eher selten der nachrichtliche Fokus. Das zeigt sich darüber hinaus auch daran, dass Medien für Konflikte dann besonders aufmerksam sind, wenn es zu gewaltsamen Eskalationen kommt. Anschließende Lösungs- oder Versöhnungsprozesse schaffen es kaum noch über die Wahrnehmungsschwelle, zeigen Inhaltsanalysen. Dabei wäre bei solchen „existenziellen Themen“ eine „lösungsorientierte Berichterstattung besonders wichtig“, schreibt Gleich. Der Journalist ist unter anderem an der Online-Plattform „Peace Counts“ beteiligt, auf der Berichte über Menschen veröffentlicht werden, die sich in konkreten Konflikten für Frieden einsetzen. Maren Urner zweifelt ebenfalls nicht daran, dass Medien auch bereits konstruktiv berichten. „Aber man muss danach suchen. Auf Perspective Daily wollen wir ausschließlich auf diese Weise vorgehen.“ Besondere Aufmerksamkeit in der Branche hat kons<discretionary-hyphen>truktiver Journalismus vor allem in den vergangenen Monaten bekommen, nicht zuletzt durch das Buch „Constructive News“ von Ulrik Haagerup. Der Nachrichtenchef des dänischen öffentlich-rechtlichen Senders Danmarks Radio hat darin im vergangenen Jahr seine Vision vom Journalismus der Zukunft dargelegt und erklärt, warum schlechte Nachrichten „die Medien zerstören und wie Journalisten mit einem völlig neuen Ansatz wieder Menschen berühren“. Das Publikum suche nach relevanten Nachrichten, Journalisten müssten mehr Orientierung anbieten statt zu zeigen, wie schlecht die Welt ist. Als positives Beispiel für eine solche Haltung in deutschen Medien nennt Haagerup die Wochenzeitung Die Zeit. Doch ist es die Aufgabe von Journalisten, nach Lösungen für die Weltprobleme zu suchen? Sollte es ihnen nicht eher darum gehen, zu beschreiben, was ist; die Staats- und Wirtschaftslenker durch die Berichterstattung kontrollieren und der Gesellschaft die Möglichkeit geben, sich selbst zu beobachten, sich Meinungen zu bilden? Für Klaus Meier, Journalistikprofessor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, ist das kein Widerspruch: „Es gehört zu ganzheitlicher Beobachtung, zu schauen, ob es irgendwo Lösungen gibt“, sagte er im Gespräch mit pro. Es ginge zu weit, wenn Journalisten sich selbst Lösungen ausdenken oder erforschen müssten. Aber sie könnten die Frage in die Recherche einplanen. „Man gibt damit ja den Beobachterstandpunkt nicht auf. Eher gehört das zu gutem Journalismus dazu, wenn man alle Aspekte beieinander hat.“ Das journalistische Auswahlkriterium der Negativität eines Ereignisses spiele auch beim konstruktiven Ansatz eine Rolle: Denn es gehe ja im Kern darum, ein Problem, einen Konflikt oder Missstand zu benennen, für den aber dann versucht wird, eine Perspektive aufzuzeigen.

Gut für die Demokratie

Wie eine konstruktive Berichterstattung auf die Stimmung des Publikums wirkt, dazu lassen sich aus wissenschaftlicher Perspektive im Moment noch kaum Aussagen treffen. Eine Studie, die das amerikanische Solution Journalism Network (Netzwerk für Lösungs-Journalismus) über die Wirkung ihrer eigenen kons<discretionary-hyphen>truktiven Herangehensweise durchführte, kommt zu dem Ergebnis: Leser, die einen lösungsorientierten Beitrag gelesen haben, fühlen sich tendenziell besser informiert und motiviert, sich stärker mit dem Thema zu beschäftigen oder selbst etwas zur Lösung beizutragen – im Vergleich zu Lesern, die einen Beitrag ohne Lösungsperspektive vorgelegt bekamen. Auch wenn diese Untersuchung nicht unabhängig ist, zeigt sie zumindest eine Richtung an. Klaus Meier untersucht derzeit mit seinen Studenten, welche Wirkung der konstruktive Ansatz zeitigt. Ob dieser sich dauerhaft durchsetzt, hängt nach Ansicht des Forschers vor allem von wirtschaftlichen Fragen ab. „Wenn ich damit mehr Reichweite erziele, mehr Menschen an das Medium binden kann und sie zufriedener sind, wird ein Ansatz in der Branche eher angenommenen. Würde man kommunizieren, dass es beispielsweise alleine aus ethischen Gründen ein besserer Journalismus sei, ist das schwieriger angesichts des ökonomischen Drucks.“ Ob die konstruktive Herangehensweise ökonomisch erfolgreicher ist, sei noch nicht erwiesen. Sie wird sich erproben müssen. Auch in seiner konstruktiven Form wird Journalismus vor Misstrauen seitens des Publikums nicht gefeit sein. Denn dabei wählen Journalisten genauso bestimmte Informationen aus, verdichten und gewichten sie. Wenn Medien aber auf diese Weise tatsächlich dazu beitragen, dass sich Menschen gern informieren und für die Gesellschaft engagieren, dann ist das sehr zu begrüßen. Denn nur so kann ein demokratisches Gemeinwesen bestehen. (pro)

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 3/2016 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos unter der Telefonnummer 06441/915151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online

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