Mariella schnaubte. Dieser Tag hieß Heiligabend, dabei war es draußen hell. Die Uhr an der Kaffeemaschine konnte sie schon lesen: erst 14 Uhr, bis zur Bescherung würde es noch ewig dauern. Aus Langeweile schaltete Mariella den Fernseher an. Das durfte sie eigentlich nicht, aber die Eltern würden erst in einigen Stunden nach Hause kommen, und die Großmutter war im Lehnstuhl eingeschlafen. Auf dem Bildschirm erschien ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit einem komischen weißen Streifen im Kragen. Mariella wollte schon weiterdrücken, da sagte er: „In der frohen Botschaft liegt das Glück für euch alle, für die Großen wie für die Kleinen.“ Mariella überlegte: Glück für die Kleinen hatte in der Werbung immer etwas mit Süßigkeiten zu tun, oder mit Spielzeug. Beides klang klasse.
Leider sagte der Mann nicht, wo man diese Frohe Botschaft finden konnte, sondern redete über andere Dinge, die Mariella nicht verstand. Sie schaltete den Apparat ab, auch weil die Großmutter leiser schnarchte als vorher und die Gefahr bestand, dass sie aufwachte. Mariella dachte nach. Mit ihrer Mutter war sie einmal im Tiergarten-Viertel spazieren gegangen, da waren sie an einer Haltestelle ausgestiegen, die „Nordische Botschaften“ hieß. Es gebe in Berlin viele solcher Botschaften, hatte Mutter erklärt, dort saßen Menschen, die Stempel auf Pässe drückten oder den ganzen Tag Sekt tranken. Beides interessierte Mariella nicht, deshalb hatte sie nicht genau zugehört. Das ärgerte sie jetzt, sonst hätte sie vielleicht mitbekommen, ob diese Frohe Botschaft zu den Nordischen Botschaften gehörte.
Aber so schwer konnte das ja nicht herauszufinden sein für ein kluges Mädchen, das nächstes Jahr in die Schule kam. Mariellas Entschluss stand fest: Sie würde die Frohe Botschaft finden und sich dort die Süßigkeiten abholen, die der Mann im Fernsehen versprochen hatte. „Sorry, Omi“, sagte sie leise, als sie die Wohnungstür hinter sich zuzog. „Ich hätte dir gern eine Nachricht dagelassen, aber ich kann noch nicht schreiben.“
Draußen war mächtig was los, Autos hupten, Fahrräder klingelten, die Menschen schoben sich auf den Bürgersteigen eng aneinander vorbei. Die Einkaufsstraße, an der Mariellas Familie wohnte, war mit vielen kleinen Lichtern geschmückt, aus den Geschäften klangen Weihnachtslieder. Zwei Stände mit dampfenden Bechern verströmten einen merkwürdigen Geruch. Mariella fand die Haltestelle und den richtigen Bus und stieg ein. Es dauerte ziemlich lange, dann sagte die Stimme vom Band: „Nordische Botschaften!“ Mariella lief das Wasser im Mund zusammen, als sie ausstieg.
Die Enttäuschung war groß. Statt einer Schlange aus Kindern, die sie erwartet hatte, stand niemand vor dem Eingang, das große Tor war verschlossen. Doch so schnell gab Mariella nicht auf. An der Bushaltestelle entdeckte sie einen Stadtplan, auf dem weitere Botschaften eingezeichnet waren, das erkannte sie an den kleinen Häuschen mit dem B in der Mitte. Einer von diesen Orten musste der richtige sein. Weil sie im Pfadfinderverein war, fand sich Mariella ohne Schwierigkeiten zurecht. Sie suchte ein Gebäude nach dem anderen auf, stieß aber auf keine Menschenseele. Die Dämmerung brach herein, die Wege wurden länger, die Beine schwerer. Mariella fühlte sich müde und hungrig. Sie tastete nach dem Apfel in ihrer Manteltasche, den sie aus der Küche mitgenommen hatte, wollte ihn aber noch aufsparen. Vielleicht wurde es ja doch noch etwas mit den Süßigkeiten.
„Ich habe die Frohe Botschaft gesucht“, murmelte sie.
„Ich glaube, du hast sie gefunden“, sagte er.
Aber auch an ihrem nächsten Ziel war niemand – außer einem Obdachlosen, der neben einem Wachhäuschen hockte, um windgeschützt und trocken zu bleiben. Es begann zu schneien. Das sah schön aus, aber Mariella zitterte und konnte kaum noch die Augen offenhalten. „Hast du dich verlaufen, Mädchen?“, fragte der Mann. Er hatte einen struppigen grauen Bart und eine blaue Pudelmütze auf dem Kopf. Die große Gestalt saß auf einer Pappe neben einer brennenden Kerze und rückte ein wenig beiseite. „Kannst dich hier ausruhen“, sagte er. Das Mädchen schüttelte den Kopf, obwohl es keine Angst hatte. „Feierst du Weihachten draußen?“, wollte sie wissen und deutete auf die Kerze. Der Mann lachte, ihm fehlten ein paar Zähne. „Weiß noch nicht, vielleicht geh ich auch in eine Unterkunft“, sagte er. „Bei den Kirchenleuten ist es ganz nett.“
Der Wind biss Mariella ins Gesicht, der kalte Schnee kroch ihr in den Kragen. Ganz so unrecht hatte die Großmutter nicht, wenn sie immer sagte, sie sollte einen Schal umbinden. Die Kleine setzte sich nun doch neben den Mann, alles war besser, als in der Kälte zu stehen. Auch der Hunger war wieder da. Sie holte den Apfel aus der Tasche und hielt ihn dem Mann hin: „Willst du?“ Er zögerte, lächelte dann aber dankbar und kramte ein kleines Taschenmesser hervor. Als jeder an seiner Hälfte kaute, sagte er: „Du musst nach Hause, Mädchen, deine Eltern machen sich sicher Sorgen.“ Sie nickte und schob dem Mann einen Zettel mit einer Nummer zu, den sie immer bei sich trug. „Wir müssen Omi anrufen, damit sie mich abholt, hast du ein Telefon?“ Der Mann hatte keins, aber er winkte ein junges Paar in Rentierpullovern heran, das sich im Schnee fotografierte: „Könnt ihr kurz helfen?“
Während die junge Frau wählte, rutschte Mariellas Kopf an die Schulter des Mannes. Sie blinzelte gegen die Müdigkeit an. „Du bist nett“, sagte sie, als ihr der Bärtige eine alte Decke umlegte. „Wenn Großmutter mich abholt, kannst du mit zu uns kommen. Heiligabend gibt’s Würstchen mit Kartoffelsalat und hinterher Schokopudding. Ein Gästezimmer haben wir auch.“ Der Mann schluckte. Dann fragte er leise: „Was machst du überhaupt hier ganz allein?“ Mariella gähnte. „Ich habe die Frohe Botschaft gesucht“, murmelte sie, und die Augen fielen ihr zu. Der Mann schaute auf den Apfelrest in seiner Hand und dann auf das schlafende Mädchen. „Ich glaube, du hast sie gefunden“, sagte er.
Von Tilman Deich, 57 Jahre alt, geboren an der Küste, gläubiger Lutheraner und Journalist in Berlin