Malessa: „Sachzwang kann christliches Gewissen verführen“

Das Musical „Amazing Grace“ ist erstmals im September in Kassel zu sehen. Schon jetzt ist eine gleichnamige CD erschienen, für die ein Ensemble die zentralen Lieder des Musicals eingespielt hat. Das Libretto von „Amazing Grace“ stammt aus der Feder des Journalisten und Theologen Andreas Malessa. pro hat mit ihm über die Hauptfigur, den Sklavenhändler und Pastor John Newton, und über Shoppen bei Kik gesprochen.
Von PRO
Malessa schreibt auf seiner Internetseite: „‚Am Anfang war das Wort, wurde Mensch und wohnte unter uns‘ – Ich will in Rede und Schreibe, in Tönen und Bildern kommunizieren, was das praktisch bedeutet.“
Es ist das bekannteste Gospel-Lied der Welt: „Amazing Grace“. Doch weitgehend unbekannt ist die Geschichte seiner Entstehung. Das will ein neues Musical ändern. Die Texte stammen aus der Feder des Journalisten Andreas Malessa. Das Musical handelt davon, wie der Sklavenkapitän John Newton zum christlichen Glauben kam und später aktiv den Kampf gegen den Menschenhandel aufnahm. John Newton besuchte zwei Jahre lang ein Internat. Diese Zeit belastete ihn emotional sehr. Später desertierte er von der Marine, um seine geliebte Polly Maria Catlett wiederzusehen. Er entging knapp dem Galgen und verdiente sein Geld als Sklavenspediteur in Westafrika. Einen furchtbaren Sturm überlebte er, seine Mannschaftskollegen nicht. Dass er noch einmal davon gekommen war, nannte er später eine „Amazing Grace“, eine erstaunliche Gnade. Aus Dankbarkeit für Gottes Hilfe schrieb er das Gospel-Lied.

pro: Jetzt mal ehrlich, „Amazing Grace“ kennt fast jeder. Haben Sie es sich damit nicht ein bisschen einfach gemacht?

Andreas Malessa: Es ist auf den ersten Blick sogar langweilig. Aber eben nur auf den ersten Blick. Alle kennen die Melodie des Gospel-Klassikers „Amazing Grace“.

… aber keiner kennt die Geschichte des Lieddichters?

Richtig. Oder sagen wir, eine gebildete Schicht kennt möglicherweise noch William Wilberforce, den Mann, der 1807 im englischen Parlament nach 20 Jahren politischem Kampf dafür sorgte, dass der Sklavenhandel verboten wurde. Aber kein Mensch weiß, dass Wilberforce als Jugendlicher von seinem Pastor John Newton gedrängt wurde, Politiker zu werden und nicht Pfarrer. Das fand ich dann überhaupt nicht langweilig, eine historisch noch weitgehend unbeackerte Figur, die obendrein noch hochkomplex ist, darzustellen. Auf der Bühne wird es nicht einfach nur um die Biografie und die Persönlichkeitsreifung des John Newton gehen, sondern es wird auch eine schöne Liebesgeschichte erzählt. Es wundert mich, dass Hollywood das noch nicht gemacht hat.

Die Hauptfigur John Newton predigt das Evangelium und ist gleichzeitig Sklavenkapitän. Wie passt das zusammen?

Das hat mich an der Geschichte gereizt, dass es keine Vorher-Nachher-Geschichte ist: böser Sklavenkapitän wird reumütiger Pfarrer. Im Gegenteil, als Newton in England ankommt, ist er völlig mittellos. Polly heiratet ihn trotzdem, jetzt muss er aber seinen Schwiegereltern Tüchtigkeit beweisen und irgendwie Geld verdienen. Er bekommt das Angebot Sklavenkapitän zu werden, und er macht es. Er kompromittiert sein christliches Gewissen. Für ihn war der Transport von schwarzen Menschen ungefähr so wie für uns ein 30-Tonner voller Salatköpfe. Das klingt jetzt schockierend, aber wir müssen natürlich die Menschen in ihrer Zeit ernst nehmen. Das entschuldigt sie nicht vor uns. Es lässt mich aber davor erschaudern, wie stark ein christliches Gewissen vom Zeitgeist und wirtschaftlichen Notwendigkeiten verführt werden kann. John Newton hat seine Empathiefähigkeit, seine Sensibilität für das Leiden von Menschen zu Gunsten wirtschaftlicher Notwendigkeiten zurückgestellt und damit ist er ein sehr aktueller, modernen Mensch. Nach dem Motto: Von irgendetwas musste ich ja leben. Das kommt im Musical vor. Nicht im Sinne, dass wir uns lange über ihn empören, sondern als kritische Anfrage an mich heute.

Was tun Sie, um nicht gegen Ihr Gewissen zu handeln?

Ich habe den Wehrdienst verweigert und bin nicht zur Bundeswehr gegangen. Weiter bedeutet das für mich, dass ich mich gegen Waffenexporte einsetze, dass ich Politikern auf die Finger schauen möchte, welche Gesetzesinitiativen sie unterstützen und welche nicht. Es bedeutet ein hohes Bewusstsein für ethisches Einkaufen. Nun kann sich nicht jeder leisten, nicht bei Kik zu kaufen, aber es sollte jeder zumindest christliche und andere Organisationen darin unterstützen, die gegen Kinderarbeit und Ausbeutung in der dritten Welt sind. Ich will nicht von mir selber ablenken, aber natürlich schärft die Beschäftigung mit John Newtons Geschichte seit zwei Jahren mein Gewissen. Wo bin ich bereit, etwas nicht Hinnehmbares zu akzeptieren oder es schulterzuckend zur Kenntnis zu nehmen? Das Gegrinse über Gutmenschentum in manchen Zeitschriften und Sendungen halte ich für unerträglich. Wie heißt eigentlich die Alternative?

„Nächstenliebe ist sozial und politisch realisierbar“

Gibt es eine Alternative?

Empathiefähigkeit. Eine wichtige Sache. Das Gutmenschentum zu nennen, ist blöd. Ich glaube nicht, dass nur die Harten und Rücksichtslosen Erfolg haben. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der Menschen rücksichtsvoll und empathiefähig füreinander sind, auch aufeinander Acht haben und mitleidenschaftlich sind. Das englische Wort Compassion ist schöner als unser deutsches Wort Mitleid. In Mitleidenschaft steckt das Wort Leidenschaft drin. Sich leidenschaftlich für jemanden engagieren. Aber vor allem möchte ich mich nicht dafür schelten lassen, dass ich Nächstenliebe für sozial und politisch realisierbar und für einen wichtigen Wert halte.

Ist ein Christ schlecht, wenn er bei Kik kauft?

Nein. Ein schlechter Christ ist man nicht durch irgendetwas, was man tut oder unterlässt. Christ ist man dadurch, dass man sich an Christus gebunden hat in Bekenntnis und Taufe. Christ ist man dadurch, dass man Gottes Ja erwidert hat für unser Leben, dass man sich als ein von Gott geliebtes Kind und von Christus gerechtfertigter Sünder versteht. Aus dieser Beziehung ergeben sich unsere ethischen Verhaltensweisen. Da finden es die einen ethisch, vegetarisch zu leben und die anderen finden es ethisch, bei Kik zu kaufen, wohl wissend, wie diese Produkte hergestellt werden. Ich möchte, dass wir uns in unseren jeweiligen Sachzwängen wenigstens bemühen, Menschlichkeit, Nächstenliebe und Empathiefähigkeit zu praktizieren. Auch ein Praktikant oder Student kann von seinem Einkommen oder BAFöG einen Teil für Kinderpatenschaften oder für sonst was spenden.

Welche Erkenntnisse haben Sie noch aus der eigentlich alten Geschichte aus dem 18. Jahrhundert für unser Leben heute gezogen?

Dass wir glückliche Fügungen und Bewahrung nicht einfach als „Hey, Glück gehabt“ abhaken, sondern uns eine Dankbarkeit erhalten für fürsorgliche Barmherzigkeit Gottes. Statt „Schwein gehabt“ würde ich lieber hören „Gott sei Dank“.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Martina Schubert, Text Elisabeth Hausen.
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