Malessa: „King rechnete mit Gottes Handeln“

Der Journalist Andreas Malessa erklärt im Gespräch mit PRO, warum der gewaltlose Widerstand von Martin Luther King und dessen Rede „I have a Dream“ eine andere Dimension hatten, als die Proteste der „Letzten Generation“ heute.
Von Norbert Schäfer
Andreas Malessa

Am Nachmittag des 28. August 1963 tritt der 17. von insgesamt 18 Rednern an die Mikrofone vor rund 250.000 Menschen, die sich beim „Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit“ am Lincoln-Memorial in Washington, D.C. versammelt haben. „I have a dream …“ (dt.: Ich habe einen Traum … ) ruft der damals 34-jährige Baptistenpastor Martin Luther King jr. mehrmals und Refrain-artig der versammelten Menge zu, nachdem er sein Redemanuskript – das er mehrfach und akribisch überarbeitet hatte – zur Seite gelegt hat.

King entfaltete an geschichtsträchtigem Ort – am Ehrenmal für Präsident Abraham Lincoln, der 100 Jahre zuvor die Sklaverei in den USA abgeschafft hatte – seine Vorstellung des amerikanischen Traums, in dem alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe oder Weltanschauung, wie es die amerikanische Verfassung garantiert, „die Freiheit und das Recht haben, ihr Glück zu suchen“.

PRO: Wann sind Sie erstmals mit Martin Luther King in Berührung gekommen?
Andreas Malessa: 1968, mit 13 Jahren. Unsere Englischlehrerin kam in die Klasse, ihr brach die Stimme, sie fing an zu weinen und sagte: „Gestern Abend ist ein ganz wichtiger Mensch umgekommen.“ Martin Luther King war tags zuvor ermordet worden. Mein Vater hatte ihn auf einer Konferenz der Baptisten in Amsterdam 1964 kennengelernt. Da war ich neun, das hatte ich kaum realisiert. Aber dass unsere Englischlehrerin heulte, erinnere ich lebhaft. Während des Studiums las ich dann alles von und über King. 1993, zum 25.Todestag, traf ich mich mit seiner Tochter Yolanda und mit Samuel Kyles, dem Pastor, der am 4. April 1968 in Memphis mit auf dem Hotelbalkon stand, als der Schuss fiel.

Was hat sie an Martin Luther King so sehr fasziniert, dass sie daraus Stoff für ein Musical entwickelt haben?
Die Rassentrennung in Nordamerika war während der 50er und 60er Jahren für die Schwarzen in den US-Südstaaten vergleichbar schlimm wie die Apartheid in Südafrika vor 1993. Keine gleichen Rechte, kein freier Zugang zu Schulen, zu Berufen, zu Wohnungen, zu öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln. Alles war segregiert, also nach Hautfarben getrennt. Protest dagegen hatte es immer schon gegeben. Aber diesen Protest eben nicht als einen langwierigen Guerillakrieg, sondern gewaltlos zu machen – diese Idee setzte erst ein 27-jähriger Baptistenpastor 1955 in Montgomery (Alabama) um.
King fragte sich: Was, wenn alle Schwarzen die Busse boykottieren und die Busgesellschaft pleite geht? Dann müssen sie einlenken. Wir packen sie beim Geld! Es war der erste Kundenboykott in der modernen Geschichte Amerikas. Die Demonstranten wurden zusammengeprügelt, die Rassisten wurden immer gewalttätiger. Aber – und das war das Neue und dafür ehren wir Martin Luther King als Friedensnobelpreisträger von 1964 – er ist konsequent gewaltlos geblieben. Selbst nach Bomben- und Mordanschlägen und fadenscheinigen Inhaftierungen. Das finde ich noch heute faszinierend und vorbildhaft.

Wichtige Reden, wie die „Gettysburg Address“ von Abraham Lincoln, sind in den USA Teil des kulturellen Gedächtnisses. Gehört Kings Rede „I have a dream“ ebenfalls dazu?

Auf alle Fälle. Für viele Menschen reduziert sich Martin Luther King auf diesen einzigen Satz: „I have a dream.“ Aber dahinter steckt ja sein ganzes Lebenswerk. Er war geistig beeinflusst in seinem Theologie- und Philosophiestudium von Martin Luther, Reinhold Niebuhr und Dietrich Bonhoeffer. King hat „Ergebung und Widerstand“ gelesen. Dann von Mahatma Gandhi, der ja kein Christ war, der aber den gewaltlosen Widerstand zu einer strategischen Form geprägt und damit das britische Empire aus Indien geworfen hatte. All das ist in das Leben und Wirken Kings und damit auch in seine Rede eingeflossen. Ein Vermächtnis. King knüpft am 28. August 1963 an den einstigen US-Präsidenten an und sagt sinngemäß: Abraham Lincoln hat einen Scheck angefordert, Lyndon B. Johnson, damals Präsident der USA, hat ihn uns ausgestellt, nur wir haben ihn noch nicht eingelöst. Wir fordern die Auszahlung jetzt! Rechte wollen ja gelebt sein. Insofern: Ja, Kings Rede ist Teil des kulturellen Erbes der US-Amerikaner und aller Menschen weltweit, denen die Bürgerrechte am Herzen liegen.

Sehen Sie Parallelen von Kings zivilem Ungehorsam und dem gewaltlosen Widerstand zu den Blockaden der „Letzten Generation“?
Historische Parallelisierungen sind heikel, brauchen eine genaue Betrachtung. Der Unterschied ist: Kings Protest gegen Rassismus forderte konkrete, im Moment realisierbare Verbesserungen für eine klar umrissene Gruppe: die Afro-Amerikaner. Gleiche Schulen, gleiche Busse, gleiche Kneipen. Die Forderungen der „Letzten Generation“ heute sind grundlegend für die gesamte Menschheit. Die betreffen die Volkswirtschaften aller Länder, den weltweiten Umgang mit Wasser, Luft und Bodenschätzen. Das ist eine andere Nummer, ist noch existentieller und vom Anliegen her absolut richtig, finde ich. Leider sind ihre Aktionen aber so unspezifisch: Statt sich vor Yachthäfen, Kreuzfahrtterminals, Luxusauto-Halden oder das Verkehrsministerium zu kleben, hindern sie Niedriglöhner, Handwerker, Ärzte und Hebammen daran, pünktlich an der Arbeit zu erscheinen. King wollte Gerechtigkeit für Prekäre, auch für weiße Arme. Ich würde das unterscheiden. King war beseelt von der konkreten Utopie des Reiches Gottes, wie sie in der Bibel, in der Messias-Hoffnung des Judentums, in den Predigten Jesu und in der Hoffnung der Christen auf die Verwirklichung von Gottes Willen in dieser Welt gerichtet sind. Das heißt: King rechnete nie nur mit dem, was wir als Menschen alleine tun können, sondern immer auch damit, dass wir den Tunnel von zwei Seiten anbohren. Das, was Menschen tun können und dem, was Gott tun wird und tun kann.

Wie meinen Sie das?
Betrachte ich die historischen Utopien der letzten 400 Jahre, finde ich: Vieles, was revolutionär zum Guten geschehen ist, haben nicht nur Menschen alleine gemacht. Es ist von Gott geschenkt worden. Der Westfälische Friede von 1648 in Münster und Osnabrück hat Toleranz zwischen Katholiken und Protestanten geschaffen. Unvorstellbar nach 30 Jahren Massakern. Das Verbot des Sklavenhandels durch William Wilberforce im britischen Parlament 1807, das Verbot der Sklaverei an sich in den USA durch Abraham Lincoln 1865. Es gab berechtigte Befürchtungen, die Weltwirtschaft würde zusammenbrechen. Ein British Empire ohne kostenlose Arbeitskräfte, wie sollte das gehen?
Ich erinnere an 1949, den Frieden zwischen den Völkern Europas nach zwei (!) Weltkriegen und zig Millionen Kriegstoten. Versöhnung zwischen Deutschen und Juden nach sechs Millionen Ermordeten im Holocaust?! Völlig unvorstellbar. Dass alle diese „wunderbaren Unwahrscheinlichkeiten“ konkrete Wirklichkeit wurden, lag nicht nur an der Tapferkeit der Protagonisten, sondern ich glaube, es war auch ein Eingreifen des lebendigen Gottes und des auferstandenen Christus in unsere Weltgeschichte. Damit hat King immer gerechnet. Insofern ist aus meiner Sicht Kings Traum nicht vergleichbar mit den Forderungen der „Letzten Generation“.

Kings Rede-Refrain „Ich habe einen Traum“ vom 28. August 1963 war gewaltloser Widerstand. Das finden Sie gut. Der Refrain unserer Tage, 60 Jahre später, lautet: Mehr Waffen in die Ukraine liefern! Was ist aus Ihrer Sicht beim Krieg in der Ukraine angezeigt?
Sie sprechen mit einem jener Christen, der beim Evangelischen Kirchentag 1981 in Hamburg dabei war, als dort von Teilnehmern das Kriegerdenkmal am Dammtor mit Ochsenblut besprüht und Verteidigungsminister Apel beschimpft wurde. 1983 in Hannover sind wir alle mit lila Tüchern rumgelaufen. „Frieden schaffen ohne Waffen“ war das Motto der Zeit. Ich bin ein frustrierter und gewendeter Ex-Pazifist. Weil ich merke, dass meine Hoffnung, eine globale Wirtschaft könne den Frieden sichern – es ist doch niemand so dämlich, seine Kunden zu ermorden – sich am 24. Februar 2022 in Luft aufgelöst hat. Da ist ein Diktator, dem ist das scheißegal. Zertrümmert ist mein naiver Gedanke, Globalisierung könnte friedensstiftend sein. Ein Wirtschaftskrieg also? Meine Frau und ich haben in den 80er Jahren den Früchte-Boykott aus Südafrika unterstützt: keine Orangen, Ananas und Weine mehr aus dem Land, das schwarze Schüler erschießen lässt! Das Apartheidregime in Pretoria ist letztlich in die Knie gegangen, weil es wirtschaftlich isoliert wurde. Das funktioniert leider mit Russland nicht, weil irgendjemand denen eben doch was abkauft oder liefert. Also Verhandlung, Diplomatie? Ja, immer! Aber wenn Sie beim „Abkommen von Minsk“ 16 Stunden lang angelogen werden von einem, der lügt, obwohl er weiß, dass Sie wissen, dass er lügt, dann ist jeglicher Vertrag doch für die Katz´, bevor die Tinte trocknet! Wenn Diplomatie und Handelsboykotte nicht wirken, dann gibts bedauerlicherweise nur noch die Möglichkeit draufzuhauen. Militärisch. So gefährlich und schrecklich und tragisch das ist. Ich bin frustriert, sehe die Gewissensnöte, bin aber inzwischen dafür, dass wir der Ukraine militärisch helfen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Musical „I have a dream” aus der Feder von Andreas Malessa, Hanjo Gäbler und Christoph Terbuyken wird am 9. September 2023 in der EWE-Arena in Oldenburg aufgeführt. Weitere Aufführungen sind geplant für den 04.11.2023 in der Emslandhalle in Lingen und am 18.11.2023 im Europapark in Rust.

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