Tabus machen einsam und krank, findet Charlotte Roche. Davon erzählt auch ihr zweites Buch "Schoßgebete", das vor allem wegen seines teils obszönen Inhalts landein landaus für Furore sorgt. Trotzdem gab sich die Berufs-Provokateurin bei Maischberger eher feministisch als sexuell freiheitsliebend. Auch sie selbst halte die Gesellschaft für übersexualisiert, es ärgere sie, wenn sie mit ihrem Kind durch die Straßen gehe und jede C&A-Werbung aussehe wie ein Pornobild. Und das, obwohl man ihr schon im Elternhaus gesagt habe: "Ihr dürft im Kinderzimmer ruhig Sex haben, und falls du schwanger werden solltest, hat deine Mutter immer Geld für eine Abtreibung." "Echte" Sexualität gebe es in der Öffentlichkeit aber gar nicht mehr, sagte Roche. Stattdessen stilisierte und nachbearbeitete Plakat-Schönheiten wohin man blicke. Hier liegt für Roche das wahre Tabu. Das sei Thema ihres Schreibens.
Und führe uns nicht in Versuchung…
Die Ärztin Esther Schoonbrood gab Roche Recht: "Wir haben insgesamt eine Übersexualisierung in unserer Gesellschaft." Diese Schrankenlosigkeit beim Thema Sex sei eine Gefahr für Heranwachsende, beeinträchtige sie dies doch nachweisbar negativ in ihrer Entwicklung. Tabus beim Thema Aufklärung dürfe es dennoch nicht geben. Für den Journalisten und bekennenden Christen Tobias-Benjamin Ottmar gehört Sex zu einer Beziehung dazu, zugleich aber in einen verbindlichen Rahmen, die Ehe. Nur so könnten Paare sich zunächst charakterlich kennenlernen. "Sex kann nicht die Basis einer Beziehung sein", erklärte er. Für Roche ist "Sex nicht das wichtigste, aber etwas sehr wichtiges". Zugleich müsse man es vor einer Ehe "üben". Sie selbst habe zwar immer verheiratet sein wollen, sehe aber mit Schrecken, dass junge Paare heute "50er-Jahre-Beziehungen" lebten, die von Lügen geprägt seien. Partner müssten sich auch eingestehen können, "dass sie auf jemand anderen stehen". Langverheiratete gehen meist fremd, sonst sind sie nicht glücklich, so ihre These.
Sie selbst sei "fasziniert" von der Bordellszene und bekenne sich zum Pornokonsum, "solange Frauen dabei nicht erniedrigt werden". Für Schoonbrood ist das eine Verharmlosung der Pornoindustrie. Ottmar betonte, Prostitution sein "in den meisten Fällen Frauenausbeutung pur". Ähnliches sagte Karasek und kritisierte seinerseits die Zügellosigkeit der Werbeindustrie: "Es gibt einen guten Satz im Vater Unser: Und führe uns nicht in Versuchung." Das tue die Werbung besonders. Roches Werke halte er aber keinesfalls für pornografisch, sondern für "große" Literatur.
"Alles irgendwie verteufelt"
Und um die ging es dann auch auf weiten Strecken der 75-minütigen Sendung. Ermüdend, sollte die Talk-Sommerpause an diesem Abend doch mit einem Paukenschlag enden. Stattdessen landete die Quote im Keller und das Gespräch verlor sich in Belanglosigkeiten. "Erwachsene wollten einfach mal wieder über Sex reden", charakterisierte die "Süddeutsche Zeitung" den Talk, und weiter: "So weiß der Zuschauer nach diesem Plauderstündchen jetzt, was auch schon Goethe und/oder Karasek/Ditfuth/Roche wussten: Treue ist ein Mangel an Gelegenheit, sexualisierte C&A-Werbung schrecklich und es ist verdammt schwierig, in einer langjährigen Partnerschaft ein aufregendes Sexleben zu haben." Für den "Spiegel" war am Ende "alles irgendwie verteufelt. Fremdgehen ist böse und Treue auch, Pornos und Puffs eh, Strauss-Kahn und Roche ebenso, die Ehe ist es auch, das Christentum sowieso und die 68er haben auch viel Leid gebracht. Und Spaß macht schon mal gar nichts." Und die "Welt" schreibt passend, "Lassen Sie uns nicht mehr über das Buch reden" sei "der gefühlt häufigste Satz von Sandra Maischberger in der ganzen Sendung" gewesen.
Zwischen Literaturbesprechung und feministischer Selbstbehauptung spielte sich dann aber noch etwas bemerkenswert widerwärtiges ab. Man mag Roche vorwerfen, sie sei vulgär, lobe das Lügen, wie einst in einem "Spiegel"-Interview oder produziere sich durch unmoralische Angebote an den Bundespräsidenten, wie damals, als sie ihm anbot, mit ihm zu schlafen. Doch eine derartige Romantisierung des Rotlichtmilieus wie am Dienstagabend hat man von ihr noch nie gehört. So produzierte sie mit Genuss das Bild einer sorgenden Puff-Mutter, die sich um ihre Schäfchen kümmert und stinkende Freier des Hauses verweist. Gut, dass es Gegenstimmen gab. Letztendlich zeigt diese Verharmlosung wohl, wo Tabus doch noch erlaubt sein müssen. (pro)