Mainzer Mediendisput: „Interessant vor relevant?“

Gegen eine zunehmende Veröffentlichung des Privaten in den Medien hat sich der Schweizer Soziologe und Publizistikwissenschaftler Kurt Imhof am Donnerstag in Mainz ausgesprochen. In seinem Vortrag anlässlich des 16. Mainzer Mediendisputs beklagte er eine "Boulevardisierung" des Journalismus. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident, Kurt Beck (SPD), forderte auf der Veranstaltung ein sorgfältigeres Vorgehen der Journalisten.
Von PRO

"Demokratie lebt von der sanften Gewalt des besseren Arguments", sagte Imhof und machte gleichzeitig deutlich, dass Argumente angesichts des wachsenden "Human Interest" in den Medien eine immer geringere Rolle spielen. Er kritisierte deshalb den Verlust von den Errungenschaften der Aufklärung des 18. Jahrhunderts im aktuellen Mediengeschehen. Seit den 1980er und -90er Jahren gebe es in den Medien eine "folgenreiche Relevanzverschiebung": Journalisten berichteten immer weniger über das, "was jeden etwas angeht" und zunehmend über das, "was niemanden etwas angeht". Immer mehr werde das Private zum Öffentlichen und das Intime erobere die Medien. Die Folge sei ein "Siegeszug der Klatsch-Kommunikation", der Skandal erhalte eine zentrale politische Bedeutung. Damit werde die Aufklärung rückgängig gemacht. Inzwischen gebe es wieder so etwas wie Pranger und öffentliche Hinrichtungen. 

Privatfernsehen Ursache des Übels?

Imhof sieht den Anfang dieser Entwicklung in der Einführung des privaten Rundfunks und Fernsehens Mitte der 1980er Jahre. Neue Formate wie Talkshows und Reality-TV hätten zu einer "Boulevardisierung aller Mediengattungen" geführt und das Private öffentlich gemacht. Gleichzeitig habe diese Entwicklung die sozialen Netzwerke vorbereitet. "Der Trend zur Indiskretion und Geschwätzigkeit setzt sich in den Social Networks fort", stellte der Professor fest, der an der Universität Zürich Soziologie lehrt. "Human Interest" habe sich weit in den Informationssektor vorgeschoben und damit zu einer Krise des Informationsjournalismus beigetragen. Weitere Folgen sind für den Soziologen die Entdifferenzierung, die Entprofessionalisierung und Boulevardisierung der Berichterstattung, was sich auch auf die Nachrichtenauswahl auswirke. Dies zeige sich etwa in der abnehmenden Berichterstattung über parlamentarische Auseinandersetzungen oder darin, dass der Wirtschaftsjournalismus zunehmend auf Personen- und Unternehmensporträts beschränkt sei. "Dieser Medienpopulismus beschleunigt den politischen Populismus", warnte der Soziologe. Denn die Qualität der öffentlichen Diskussion bedinge die Qualität der Demokratie.

"Renaissance des Religiösen im Öffentlichen"

In dem Zusammenhang machte Imhof auch eine "Renaissance des Religiösen im Öffentlichen" aus. Dadurch würden Errungenschaften der Aufklärung, die damals das Religiöse ins Private verwiesen habe, ebenfalls rückgängig gemacht. Nun komme das Religiöse durch die Medien wieder an die Öffentlichkeit, allerdings in erster Linie in Form von esoterischen Angeboten, wie Horoskopen und gewissen Ratgebersendungen.

"Diese neue Form der Kommunikation färbt unsere Welt anders und emotionalisiert sie", bilanzierte Imhof. "Wir urteilen nur noch auf der Bais mediengerechten Handelns und reduzieren auf Sympathie und Antipathie." Vertrauen gelte den in den Medien vermittelten Führungspersönlichkeiten. Das Politische reduziere sich auf die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, und Gesellschaft beschränke sich auf Gemeinschaft. Diese Form der Bevorzugung des Interessanten vor dem Relevanten sei jedoch keine Alternative. Stattdessen solle man sich wieder neu Gedanken über die Trennung von Öffentlichem und Privaten machen.

Beck gegen "Schmetterlingsjournalismus"

Zuvor hatte sich der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) für einen sorgfältigeren Journalismus ausgesprochen. Der "Schmetterlingsjournalismus", bei dem man von einer Blüte zur nächsten Blüte fliege, wenn die erste keinen Nektar mehr böte, "muss hinterfragt werden". Er wünsche sich Journalisten, "die tiefer gehen, die länger an einem Thema dranbleiben". Es müsse intensiver untersucht und hinterfragt werden, was tatsächlich an Fakten vorhanden sei. Auf die launische Frage von Moderatorin Claudia Deeg, wie er als Vorsitzender des ZDF-Verwaltungsrats die Nachfolge von Thomas Gottschalk als Moderator bei "Wetten dass..?" sehe, antwortet Beck, das ginge die Politik nichts an, da gebe es klare Spielregeln. Er sei dankbar, dass er die eine oder andere Aufgabe nicht habe.

Der diesjährige Mainzer Mediendisput ist der 16. seiner Art und steht unter dem Motto "Interessant vor relevant: Orientierungslosigkeit und Identitätsverluste – wohin steuert der Journalismus?". Etwa 480 angemeldete Teilnehmer informieren sich am heutigen Donnerstag in verschiedenen Panels zu Medienthemen, wie "Online frst: Sex, clicks & trash", "Leerverkauf im Wirtschaftsjournalismus" oder die Berichterstattung im Afghanistan-Krieg. Auf den Podien diskutieren Wissenschaftler, Journalisten und weitere Medienmacher. Seit 1996 findet der Disput jährlich, meist im Oktober oder November, in Mainz statt. Veranstalter sind die Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, die Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz und die Friedrich Ebert Stiftung. Medienpartner sind die beiden in Mainz ansässigen Rundfunksender Südwestrundfunk und das ZDF. Das Programm wird von einer unabhängigen Projektgruppe gestaltet und umgesetzt. (pro)

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