Sturm zieht auf, irgendwo in Großbritannien. Der Wind weht durch grüne Wälder, er wiegt die Bäume hin und her, Regenwolken am Himmel, kein Mensch weit und breit. Bis auf einen Mann, der Holz hackt. In der nächsten Szene kniet ein Mann betend vor einem Kruzifix an einer Wand, auf seinem Rücken ein Tattoo: „Only God can judge me“ – Nur Gott kann mich richten.
Es dauert einen Moment, bis der Zuschauer merkt: Hier handelt es sich nicht um einen, sondern um zwei Männer. Die Brüder Jem (Sean Bean) und Ray (Daniel Day-Lewis). Das Leben hätte sie nicht weiter voneinander entfernen können. Letzterer lebt in einer einsamen Hütte im Wald, so einsam, dass er nur zu finden ist, wenn man die genauen Koordinaten kennt und gut ausgerüstet mehrere Stunden Wanderung in Kauf nimmt.
Das genau tut Jem gleich zu Beginn des Films. Warum er seinen Bruder finden will, ist da noch nicht ganz klar. Deutlich wird aber schnell, dass Ray sich bei weitem schöneres vorstellen kann, als seinem Bruder zu begegnen. Oder überhaupt irgendjemandem. Erst nachdem er den ungebetenen Besucher identifiziert hat, legt er das Hackebeil aus der Hand. Die Brüder begrüßen sich stumm. Als Jem seinem Bruder Gottes Segen wünscht, antwortet dieser schlicht: „Fuck you!“
Das ist ziemlich viel Testosteron auf einmal, mag der Kinobesucher an dieser Stelle denken, und in der Tat, es wird nicht besser. Zwar beginnen die Brüder nach und nach, auch mehr als zwei Worte zu wechseln. Dabei hilft aber entweder die gemeinsame Jagd mit Gewehr. Oder eine ordentliche Portion Schnaps. Nach und nach entwickelt sich eine traurige und in Teilen schwer nachvollziehbare Story: Ray ist ein Kriegsverbrecher, unehrenhaft entlassen, der mit sich und seinen Dämonen ringt. Außerdem wurde er als Kind von einem Geistlichen missbraucht, daher seine Abneigung gegen den frommen Glauben des Bruders.
Jem hingegen lebt mit Frau und Kind ein bürgerliches Leben. Ihn verfolgen keine bösen Geister, wohl aber eine Verantwortung, die er freiwillig auf sich nahm. Der Sohn seiner Frau ist nämlich gar nicht seiner, sondern das des Bruders Ray. Der leidet zunehmend unter dem Verlust des leiblichen Vaters, Hilfe ist nötig, und zwar genau die des Misanthropen im Wald.
Testosteron statt Gefühle
„Anemone“ ist die vielleicht männlichste Geschichte, die das Kino seit langem gesehen hat. Genauer: Es geht um Männer, die ihr Leben auf die Reihe bekommen wollen. Männer, die wenig sprechen, aber umso mehr unter ihren Traumata leiden. Das ist einerseits irgendwie erfrischend, denn wer weiß nicht um das immer noch vorhandene Vorurteil, es sei unmännlich, Gefühle zu zeigen. Und wer kennt nicht Männer, die unter einem Mangel an emotionaler Ausdrucksfähigkeit leiden. Es ist auch ein Wagnis, denn dieser Film kommt fast ganz ohne Frauen aus, und allein das ist vermutlich schon schwierig, zu verkaufen.
Trotz beeindruckender Bilder und der ein oder anderen erfrischenden filmerischen Idee scheitert „Anemone“, übrigens das Regiedebut von Ronan Day-Lewis, dem Sohn des prominenten Hauptdarstellers. Gemeinsam mit ihm verfasste er auch das Drehbuch. Und das will einfach zu viel. So reduziert und für Naturfans schön anzusehen das Setting ist, so sehr bemüht sich die Handlung um Windungen, wo keine notwendig wären und so wenig ist nachvollziehbar, aus welchen Motiven die Hauptpersonen am Ende eigentlich handeln.
Warum hat Ray seinen Sohn zurückgelassen? Warum hat Jem sich dazu entschieden, ihn großzuziehen? Warum halten Jem und dessen Frau an Ray fest und vergessen ihn nicht einfach? Warum braucht es überhaupt das religiöse Element in diesem Film? Die Geschichte hätte auch ohne missbrauchende Pfarrer und tätowierte Heilsbotschaften funktioniert. So lässt „Anemone“ den Zuschauer fragend und mit einem tauben Gefühl einer Überdosis Testosteron zurück. Am 27. November startet er in den deutschen Kinos.