Silke trägt ein rotes Geweih auf dem Kopf, in ihrem blonden Haar leuchtet eine bunte LED-Lichterkette. „Mein erstes Mal, endlich.“ Mehrere Jahre lang hat Silke vergeblich versucht, an ein Ticket für das Stadionsingen in Dortmund zu kommen. „Aber dieses Jahr hat sich ein Bekannter von mir ab 12 Uhr hingesetzt und immer wieder gedrückt, gedrückt, gedrückt.“ So ist Silke gemeinsam mit ihrer Mutter an zwei der begehrten Tickets gelangt.
Das gemeinsame Weihnachtssingen im Fußballstadion hat sich aus kleinsten Anfängen zu einem großen Trend entwickelt. Am Beginn der Geschichte standen 89 Anhänger von Union Berlin, die sich am 23. Dezember 2003 ins damals noch marode Stadion des Ost-Berliner Traditionsvereins schlichen. Sie tranken dort gemeinsam Glühwein und sangen Weihnachtslieder wie „O du fröhliche“ oder „Kling Glöckchen“ von Liedblättern, die sie sich vorher zusammenkopiert hatten.
Inzwischen kommen im Stadion an der Alten Försterei nur noch Vereinsmitglieder von Union Berlin an Tickets. Und auch in zahlreichen anderen Städten versammeln sich Zehntausende Menschen zum gemeinsamen Singen im Fußballstadion. In Dortmund, der weltweit größten Veranstaltung dieser Art, waren die mehr als 71.000 Plätze in diesem Jahr in weniger als einer Stunde ausverkauft. Wieder ein neuer Rekord.
„Mir hat unser Stadionsprecher Norbert Dickel erzählt: Das hier ist schneller ausverkauft, als wenn Real Madrid kommt“, sagt Dieter Falk und nippt an einer heißen Maronensuppe. Falk ist der musikalische Kopf hinter dem Dortmunder Stadionsingen. Mehr als drei Monate lang hat er am Programm gefeilt, Lieder ausgewählt und den Chor geschult. Nun, in etwas weniger als einer Stunde, wird der Event beginnen.
Falk sitzt in einer luxuriösen Lounge, die der BVB ihm und seinen Gästen zur Verfügung gestellt hat. Gerade kommt eine SMS von Yvonne Catterfeld, die nachher „Leise rieselt der Schnee“ singen wird. Dieter Falk ist eine Größe in der Pop-Branche, seine Produktionen für „Pur“ bis „Patricia Kaas“ verkauften sich millionenfach, er war Juror bei der Casting-Show „Popstars“ und ist Professor für Musikproduktion an der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule.
Beim Stadionsingen spannt Falk einen großen Bogen von „Lasst uns froh und munter sein“ bis „Happy Xmas“. Aber anders als in der Kirche lässt Falk nur wenige Strophen singen. Für das Mitsingen eines ganzen Liedes sei die Aufmerksamkeitsspanne der Leute heutzutage viel zu kurz, erklärt Falk. Der 66 Jahre alte Musikproduzent stellt deshalb aus mehreren Liedern rund fünfminütige „Medleys“ zusammen, beispielsweise ein Schnee-Medley mit „Let it snow“ und „Leise rieselt der Schnee“.
Besucher wollen den „Zusammenhalt“ erleben
Diese Mischung aus Xmas-Pop und Volkslied scheint den Geschmack der Leute zu treffen. Silke und ihre Mutter Jutta wollen im Stadion „die Stimmung genießen, ohne Stress und ohne Einkaufen“.
Ganz ähnlich sehen das Annika und Daniel, die mit ihren beiden kleinen Söhnen aus dem Sauerland nach Dortmund gefahren sind. Da sie in den vergangenen Jahren ebenfalls nicht an Tickets gekommen sind, mussten sie bisher daheim den mehr als 200.000 Mal abgerufenen Videostream des Stadionsingens am Fernseher verfolgen. Nun wollen sie in der Arena „vorweihnachtliche Stimmung und Zusammenhalt“ erleben.
Mit dem Christentum wird das Stadionsingen hingegen kaum in Verbindung gebracht. „Ich bin nicht gläubig“, erklärt Silke, die in der Gastronomie arbeitet. „Für mich ist das hier ein schöner Tag, mehr nicht.“ Die junge Familie aus dem Sauerland kann zwar mehr mit Kirche anfangen und würde sich auch an einem Gebet während des Stadionsingens nicht stören. Aber die Veranstaltung im Stadion und der Besuch eines Weihnachtsgottesdienstes sind für sie dennoch zwei verschiedene Dinge, die nicht vermischt werden sollten.
So sieht es auch Dieter Falk. „Die Kirche ist hier beim Stadionsingen in Dortmund nicht drin und hat damit auch nichts zu tun“, stellt er klar. Die Frage nach der religiösen Dimension der Veranstaltung ist damit aber nicht erledigt, weiß Dieter Falk, der ursprünglich aus der christlichen Musikszene kommt und große Pop-Oratorien für kirchliche Auftraggeber geschrieben hat. Deshalb hat Falk auch zugesagt, als ihn die BVB-Legende Norbert Dickel fragte, ob er die musikalische Leitung des Stadionsingens übernehmen möchte. „Für mich als evangelischer Christ und Berufsmusiker ist das natürlich eine interessante Sache“, erzählt Falk. „Denn das gemeinsame Singen im Stadion hat für mich schon eine religiöse Konnotation.“
Falk verweist darauf, dass der erwirtschaftete Überschuss der Veranstaltung, in diesem Jahr immerhin rund 180.000 Euro, an karitative Projekte in Dortmund fließt und es im Verlauf des 90-minütigen Stadionsingens auch „ganz stille Momente“ gebe. „Und ich versuche schon, neben den großen Hits auch mal Lieder wie ‚Es ist ein Ros entsprungen‘ ins Programm zu schmuggeln.“ Beim Stadionsingen des DDR-Traditionsvereins Union Berlin liest ein Pfarrer aus Köpenick sogar jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vor.
Irgendwo zwischen Fankultur, Kommerz und christlichem Abendland
Das Stadionsingen bildet ein neues Ritual in der Weihnachtszeit, das sich irgendwo zwischen Fankultur, Pop-Kommerz und christlichem Abendland bewegt und bei dem nicht ganz klar ist, ob hier der herrenlose Erdgeist des Fußballs oder das Kind in der Krippe den Ton vorgibt.
Diese Spannung lässt sich auch in Dortmund beobachten. Auf den ersten Blick dominiert dort im Stadion klar die schwarz-gelbe Fankultur. Die Weihnachtsmützen der meisten Besucher sind in den Farben des BVB gehalten, und die eingangs gesungenen Vereinshymne mit dem säkular-adventlichen Titel „Am Borsigplatz geboren“ formt die religiöse Erlösungsbotschaft zu einem borussischen Tribalismus um: „Gemeinsam durch das Tränental / geschlossen Hand in Hand / und am Ende der dunklen Gasse / erstrahlt die gelbe Wand.“
Doch anders als bei einem Heimspiel gegen Bayer Leverkusen oder Juventus Turin fehlt beim Stadionsingen das agonale Element: Es gibt keinen Gegner, den man besiegen, keine gegnerischen Fans, die man beschimpfen könnte. Zumindest an diesem Punkt steht das Weihnachtssingen im Stadion der Liturgie eines Gottesdienstes näher als einem Fußballspiel.
Für die 71.000 Fans scheint es auch keinen großen Unterschied zu machen, ob sie „Leuchte auf, mein Stern Borussia“ oder „Stern über Bethlehem“ singen. Der Text aller Lieder wird mit einem grellen Lichtstrahl auf den Rasen projiziert. Sogar die Zeile „Wahr‘ Mensch und wahrer Gott“ wird von den Besuchern brav mitgesungen. Es wäre allerdings ein Missverständnis, das gemeinsame Singen für den Kern der Veranstaltung zu halten. Auffällig viele summen, brummen oder schweigen, beißen in ihre Stadionwurst oder unterhalten sich selbst während dem andächtigen „Stille Nacht“ lautstark mit ihren Nachbarn.
Wie in einer amerikanischen Megachurch
In einem Weihnachtsgottesdienst wäre das schwerlich denkbar. Aber vielleicht ist die örtliche Kirchengemeinde auch der falsche Referenzrahmen. Das Stadionsingen gleicht eher dem Erlebnis in einer amerikanischen Megachurch, denn beide Events sind auf ihre ihre Art Kinder der Konsumkultur: Man bekommt eine professionelle Show geboten, während der man sich zwanglos zurücklehnen und entspannen kann, gerade weil man selbst kaum daran beteiligt ist. Das erklärt, warum Besucherinnen wie Silke das Stadionsingen als Fluchtmöglichkeit vom „Einkaufsstress“ empfinden.
Dieter Falk blickt vom Tisch in seiner Loge auf die steilen Tribünen des Dortmunder Stadions hinab, die sich bereits lange vor dem ersten Weihnachtslied füllen. „Solche Events, das ist genau mein Leben: die Mischung aus säkularer Tradition und kirchlicher Kultur.“ Falk würde sich wünschen, dass auch die Kirchen viel mehr solcher Grenzgänge wagten und ihre Berühungsängste ablegten.
„Ich finde, und das sage ich seit 30 Jahren, dass die Kirche immer noch zu steif daherkommt, und das hat viel mit der musikalischen Ausrichtung zu tun.“
Dieter Falk
„Ich finde, und das sage ich seit 30 Jahren, dass die Kirche immer noch zu steif daherkommt, und das hat viel mit der musikalischen Ausrichtung zu tun“, sagt er. „Die Kirchen vergessen gerne, dass Leute, die heute 70 sind, mit den Beatles aufgewachsen sind. Da hat kaum noch jemand Spaß, wenn er die unbekannte sechste Strophe eines alten Kirchenliedes singen soll.“
Falk bemüht sich, dieses Denken als Dozent an den Musikhochschulen der beiden großen Kirchen zu vermitteln. Er hat auch mal in Kommissionen der EKD mitgearbeitet, aber das war eher eine ernüchternde Erfahrung. „O Mann, das war vielleicht verkopft. Dabei ist Religion doch auch Herz und Bauch, vor allem Bauch“, sagt Falk. „Letztlich wollten da alle nur ihre Schäfchen ins Trockene bringen, das können Sie auch ruhig so schreiben.“ Wegen des Stadionsingens hat sich bisher niemand von der Kirche bei Falk gemeldet. „Das hat die Kirche echt verschlafen, sich auf diesen Zug zu setzen.“
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Wenn man eine Landkarte des Stadionsingens anfertigt, fällt auf, dass die Kirchen bei den größeren Events meistens, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle spielen. Eine Ausnahme bildet die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover. Dort wird im Schatten der Marktkirche kurz vor Beginn der Adventszeit eine Kurve auf eine Leinwand projiziert. Sie weist, was in kirchlichen Kontexten eher selten ist, steil nach oben. „Stand heute morgen haben wir 24.300 Tickets verkauft“, erzählt der Marketing-Mitarbeiter des Kirchenkreises, der in der Arena von Hannover 96 ein Stadionsingen veranstaltet.
Beim ersten Mal im Jahr 2022 kamen rund 7000 Menschen, im Jahr darauf waren es 12.000, und noch ein Jahr später kamen bereits 20.000 Besucher. Jetzt hat der Kirchenkreis die Kapazität auf 31.000 Plätze erhöht, die bis zur Veranstaltung am 17. Dezember ausverkauft sein werden. Der Kirchenkreis denkt schon darüber nach, wie man künftig noch mehr Besucher unterbekommt. Werbung für die Veranstaltung scheint überflüssig. „Das läuft über Mundpropaganda“, sagt Christoph Dannowski, der die Veranstaltung moderiert. Gerade gestern hat sich der langjährige Ministerpräsident Stephan Weil gemeldet und um Karten gebeten.
„Wir sind Eventmanager seit 2000 Jahren“, sagt der Superintendent
Die Veranstaltung führt den Kirchenkreis an seine Grenzen. „Wir sind Eventmanager seit 2000 Jahren, aber diese Größenordnung ist schon herausfordernd“, sagt Stadtsuperintendent Rainer Müller-Brandes. Mehr Besucher bedeuten nicht nur höhere Gema-Gebühren, sondern vor allem höhere Sicherheitsauflagen. Der Eintrittspreis von 10 Euro deckt gerade so die Kosten.
Aber der Kirchenkreis möchte ja auch keinen Gewinn machen. Die Besucher sollen jenseits ihres stressigen Alltags und der besorgniserregenden Nachrichtenlage einmal erleben, „wie die Welt auch sein kann“, sagt Müller-Brandes. Es gehe um Gemeinschaft, deshalb habe man sich viele Kooperationspartner dazugeholt, selbst wenn diese wie die Obdachlosenzeitschrift kein Geld beisteuern könnten.
Mit dem Stadionsingen wagt sich die Kirche auf wenig erkundetes Gelände zwischen christlichem Proprium und säkularer Populärkultur. „Unsere Lösung lautet derzeit, dass bei uns prominente Personen wie die NDR-Moderatorin Christina von Saß die Weihnachtsgeschichte vortragen und mein katholischer Kollege und ich jeweils zwei, drei Sätze sprechen, in denen wir die religiöse Dimension aufmachen“, erzählt Stadtsuperintendent Müller-Brandes. Auf ein Gebet oder einen Segen wird hingegen verzichtet. „Es gibt Leute, die sagen, das ist zu wenig, es gibt aber auch Leute, denen das sonst zu viel würde.“
„Kundenorientierung ist Nächstenliebe“
Bei der Liedauswahl beschreitet der Kirchenkreis ähnliche Wege wie die Dortmunder. „Wir machen einen superbunten Mix aus traditionellen Weihnachtsliedern, weltlichen Liedern wie ‚Leise rieselt der Schnee‘ und Pop-Songs“, sagt Gospelkantor Jan Meyer. „Unsere Überschrift lautet: Kundenorientierung ist Nächstenliebe“, sagt Stadtsuperintendent Müller-Brandes.
Der Event in Dortmund strebt derweil seinem Höhepunkt entgegen. Der Himmel über dem Stadion hat sich längst von trüben Regengrau in nächtliches Dunkel verwandelt. „Jetzt geht es richtig zur Sache“, ruft Norbert Dickel. „Ich habe gerade noch mit dem Chef von Vodafone gesprochen, der freut sich, wenn ihr die roten Lichter anmacht.“
Die kleinen Leuchten, die der BVB-Hauptsponsor unter den Besuchern verteilen ließ, tauchen die schwarz-gelbe Arena in ein weihnachtliches Rot. Es ist Zeit für „Last Christmas“, das wohl beliebteste wie auch umstrittenste Weihnachtslied.
Danach noch ein Medley mit Dieter Falk am Keyboard und dann, zum Abschluss, der wohl emotionalste Moment des Stadionsingens: Zwei junge Mädchen aus dem Chor stimmen „We are the world / we are the children“ von Michael Jackson an. Vom Christuskind ist in dem Lied zwar nirgends die Rede. Aber wenn Religion vor allem eine Sache des Bauches ist, wie Falk sagt, dann hat das Stadionsingen in diesem Moment etwas erreicht.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. Autor: Reinhard Bingener