„Lieber keine Politik machen mit Gott“

Passen Politik und Glaube zusammen? Dieser Frage widmet die Wochenzeitung "Die Zeit" ihr aktuelles Titelthema. Ob Beschneidung oder Blasphemie, Kopftuch oder Kruzifix: Es ist immer derselbe Konflikt - "Die Debatte nervt", findet Evelyn Finger, Leiterin des Ressorts "Glauben und Zweifeln". Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse erklärt, warum für ihn Glaube und Politik unzertrennlich sind.
Von PRO
"Das elfte Gebot" laute laut "Zeit": "Du sollst mit Gott nicht Politik machen!" Evelyn Finger geht der Frage nach, warum die Religion in der Demokratie immer neuen Streit auslöst. "Manchmal sind Kirche und Staat ein schönes Paar", gibt sie zu. Etwa wenn in der kommenden Woche der deutsche Bundespräsident den deutschen Papst in Rom besucht. Die Oberhäupter zweier gegensätzlicher Welten sprächen dann in derselben Sprache miteinander.

Doch Glauben und Demokratie passten eigentlich nicht zusammen, so Finger. "Unter Benedikt XVI. hat der Vatikan eine Doktrin verabschiedet, die besagt: Demokratie muss auf den Zehn Geboten fußen. Das heißt, der demokratische Staat soll sich zum Gott der Christen bekennen. Erst kommt Gott, dann der Staat. Nicht umgekehrt." Finger merkt an: "Wenn der Vatikan sich durchsetzen könnte und die Zehn Gebote würden wirklich für alle Bürger gelten, dann wäre die Demokratie nicht mehr weltanschaulich neutral, und Religionsfreiheit gäbe es auch nicht." Da tue sich ein "Abgrund" auf zwischen Staat und Kirche.

"Warum regt uns jede Woche eine neue Glaubensfrage auf: Ist das Ritual der Beschneidung eine Körperverletzung? Müssen wir die religiösen Gefühle unserer sensibleren Mitbürger gegen Karikaturen schützen? Brauchen wir vielleicht ein Gesetz gegen Blasphemie? Wer darf Kopftuch tragen in der Schule? Wohin hängen wir das Kruzifix?" Das seien spannende Debatten, "aber man kann sie bald nicht mehr hören". Denn es gehe ja jedes Mal um die im Grundgesetz längst beantwortete Frage: Wie viel Glauben verträgt die Demokratie? Sie konstatiert: "Die Debatte nervt."

Ein Blick in die Führungsriege der Regierung zeigt: Christliche Politiker genießen in unserer zunehmend entkirchlichten Gesellschaft hohes Ansehen. Aber der Staat sei "überhaupt erst entstanden, weil die Religionen sich einst als friedensunfähig erwiesen haben, als sie noch im Besitz der politischen Macht waren", erklärt die "Zeit"-Autorin. Sie fordert: "Kirchen und Religionsgemeinschaften müssen sich die öffentliche Infragestellung ihrer Überzeugungen (und ihrer Steuerprivilegien) gefallen lassen. Sie müssen akzeptieren, dass ihre Gebote nicht für alle Bürger gelten. Dass Gott nicht bestimmt, was in der Welt geschieht." Sie fügt hinzu: "Lieber keine Politik machen mit Gott. Denn jede Wahrheit muss anfechtbar sein in der Demokratie."

Thierse: "Religionslosigkeit kann gefährlich sein"

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) erklärt im Interview, als Katholik habe er bisher vor dem Papst nicht das Knie gebeugt, und er werde es auch nicht vor dem Bundespräsidenten tun. "Als Christ, auch als Katholik, beugt man sein Knie nur vor Gott, vor sonst niemandem!"

"Es mehren sich die Stimmen derer, die aus dem weltanschaulich neutralen Staat einen parteiischen Staat der Religionslosen und der Laizisten machen wollen. Das halte ich für falsch." Im Hinblick auf seine eigene Lebenszeit im DDR-Staat stellt er fest: "In der DDR gab es keinen Religionsunterricht an den Schulen, keine Militärseelsorge, keine öffentlichen Bekenntnisse. Und siehe da, das Ding ging unter!" Und er fügt hinzu: "Tatsache ist, Religionslosigkeit kann gefährlich sein."

Der deutsche Staat sei selbstverständlich weltanschaulich neutral. "Aber das heißt nicht, dass dieser Staat Partei ergreifen darf für Areligiosität, Laizismus, Atheismus." Der Glaube des einzelnen sei zwar Privatsache, aber der christliche Glaube sei "nicht bloß das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, sondern auch Einweisung in ein gutes und sinnvolles Leben, in soziale Praxis und damit auch in Politik".

Der Staat selbst sei säkular, aber er verlange deshalb nicht, dass die Bürger, die ihn tragen, säkular sein müssen, so Thierse. Das Grundgesetz sei von Menschen gemacht, die in ihrer großen Mehrheit religiös geprägt waren. Für ihn persönlich gelte: "Ich bin zugleich Politiker und Christ. Das lässt sich nicht trennen."

Christentum ist "was mit Jesus"

Die "Zeit" fragte außerdem zwei Redakteure aus dem eigenen Haus nach ihrer Meinung zur Frage "Ist Religion Privatsache?" Elisabeth von Thadden meint: Ja! "Was einer glaubt, ist schon allein deshalb Privatsache, weil jeder für sich selbst herausfinden muss, was er mit der Vernunft in Einklang bringen kann und was nicht." Schon das erste Gebot Gottes mache deutlich, dass es sich beim Vertrauen auf Gott um eine Anrede an ein Individuum handelte: "Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Der moderne Staat sei schließlich das Ergebnis des Dreißigjährigen Religionskrieg, der den Kontinent Europa in die Verwüstung trieb. "Auch um Menschen vor Menschen wirksam schützen zu können, muss Religion Privatsache sein", ist von Thadden überzeugt.

"Zeit"-Autor Patrik Schwarz hingegen bekennt: "Es fällt mir zunehmend schwerer, den Mund zu halten, wenn es um Gott geht. (…) In der Kirche fällt es mir zunehmend leichter, still zu sitzen, in der Öffentlichkeit zunehmend leichter, auch mal den Mund aufzumachen für meine Kirche. Früher war es genau andersrum."

Er selbst sei zwar nicht "so richtig raus aus der Kirche" gewesen, aber wieder "so richtig drin", seit er 30 ist. "Seitdem werde ich immer frömmer – und fühle mich dabei freier." Der evangelisch-lutherische Journalist fragt: "Gibt es Grenzen für christliche Demonstranz? Ja, wenn die Monstranz zur Dominanz wird. Weil Glaube Eifer mit sich bringt (…)." Er selbst verteidige den Glauben gegen "Besserwisser, die in dicken Büchern schreiben, warum Glauben schlecht sei für den seelischen und politischen Frieden – also dumm macht oder tot". Er sträube sich aber gegen die Ansicht, der Glaube sei "schick", weil er "was mit Werten" zu tun habe. "Denn das Christentum ist in seinem Glaubenskern gleichermaßen zu intim wie zu radikal, als dass es Tünche sein sollte, um schwarz-grüne Behaglichkeitswelten zusammenzuhalten. Das Christentum ist, diesen Minimalkonsens wünsche ich mir, zumindest ‚was mit Jesus‘." (pro)
http://www.zeit.de
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