Irgendjemandem musste sie es erzählen. So vertraute sich das ehemalige Kindermädchen Gertruda eines Tages ihrem Pfarrer an. "Mein Kind ist das einer anderen Frau. Und es ist jüdisch." So oder so ähnlich muss sie es dem Geistlichen gesagt haben, der die gläubige Katholikin und den kleinen Michael aus seinen Gottesdiensten kannte. Der Zweite Weltkrieg tobte, jeden Sonntag saßen SS-Leute Hitlers in den ersten Reihen der Kirchenbänke, einen Juden zu verstecken, bedeutete Lebensgefahr. Der Pfarrer entschied sich, zu helfen. Nur eine Bedingung stellte er: Das jüdische Kind müsse getauft werden. Gertruda stimmte zu. Michael wurde Messdiener. Von nun an war er es, der die Helfer Hitlers jeden Sonntag mit Weihrauch benetzte. "Wenn sie das gewusst hätten", sagt Michael Stolowitzky heute und lacht.
Aus dem jüdischen Messdiener ist ein rüstiger alter Herr geworden. Das Haar ist ergraut und teilweise einer Glatze gewichen. Doch obwohl Stolowitzky Mutter und Vater während des Holocausts verloren hat, umspielt fast immer ein Lächeln seine Lippen, wenn er an diesem Donnerstagabend in Berlin von seinem Schicksal erzählt. Der Brunnen-Verlag hat ihn eingeladen, um das Buch seines Lebens, "Für dich habe ich es gewagt", verfasst vom israelischen Bestseller-Autor Ram Oren, vorzustellen. Er sei nie ohne Mutter gewesen, sagt Stolowitzky. Das habe er Gertruda zu verdanken. Dem Kindermädchen, das sein Leben aufs Spiel setzte, um den Platz seiner leiblichen Mutter einzunehmen.
Ein Junge mit zwei Müttern
1938 kam Gertruda in eine reiche jüdische Familie nach Warschau. Michael, das einzige Kind, war damals zwei Jahre alt. Als die deutschen Truppen ein Jahr später Polen überfielen, flohen Mutter und Sohn ins litauische Wilna. Doch die zunehmende Todesangst ließ die Jüdin am Herzen erkranken. Auf dem Sterbebett bittet sie Gertruda um ein Versprechen. Sie sollte schwören, Michael wie ihren eigenen Sohn zu beschützen und nach dem Krieg nach Israel zu bringen. Gertruda willigte ein. Als die Deutschen auch Litauen besetzten, musste sie Michael verstecken. Auf der Straße hingen Plakate mit Aufschriften wie: "Jeder Christ, der Juden hilft, wird erschossen." Doch beide überlebten. Nach Kriegsende brachen sie mit dem Schiff "Exodus" nach Israel auf und fanden im Heiligen Land eine neue Heimat. Später wurde Gertruda in Israel als eine der "Gerechten unter den Völkern" geehrt. Sie starb 1995. Michael lebt heute in New York. Wenn man ihn nach seiner Mutter fragt, sagt er, er habe zwei gehabt.
Ram Oren, den manche den israelischen John Grisham nennen, wollte eigentlich eine Geschichte über jüdische Immigranten schreiben. Dazu traf er zu Beginn seiner Recherchen den Kapitän der "Exodus". Was die verrückteste Geschichte gewesen sei, die er auf seinem Schiff zu hören bekommen habe, fragte er den Seemann. Zu hören bekam der die Geschichte von Michael Stolowitzky und seiner Pflegemutter. Er zögerte nicht, recherchierte und fand Stolowitzkys Nummer in New York heraus. Oren erinnert sich: Als er dem Wahlamerikaner erzählte, dass er seine Geschichte aufschreiben will, war es kurz still in der Leitung. Dann sagte Stolowitzky: "60 Jahre habe ich darauf gewartet, dass jemand meine Geschichte in einem Buch erzählen will." So wurde aus dem Buch über Immigranten ein Buch über Michael Stolowitzky. Oren recherchierte die Fakten, die Stolowitzky ihm lieferte, aufwendig nach. "Nur ungefähr ein Prozent des Buchs ist Fiktion", sagt er. Der historische Roman wurde zum Bestseller in Israel, hat sich mittlerweile auch auf dem amerikanischen Buchmarkt zehntausendfach verkauft und erschien vor einigen Monaten in deutscher Sprache im Brunnen-Verlag.
"Ohne Gertruda wäre ich nicht hier", sagt Stolowitzky. Nicht er sei der Held des Buches, sondern sie. Als die Katholikin vor 16 Jahren starb, wurde sie katholisch beigesetzt. Sie ist ihrem Glauben ihr Leben lang treu geblieben, ebenso wie Stolowitzky. Den Juden und die Christin muss vor allem ihr unbeugsamer Optimismus verbunden haben: "Ich habe immer Hoffnung", sagt Stolowitzky. "Selbst wenn es regnet, glaube ich daran, dass in Wahrheit die Sonne scheint." Und dann ist da wieder dieses Lachen, das seine Zuhörer für einen Moment vergessen lässt, dass der gemütliche Mann mit dem schicken Anzug die schlimmste Epoche deutsch-jüdischer Geschichte erlebt und überlebt hat. (pro)
Ram Oren: Für dich habe ich es gewagt. Ein Kind, ein Versprechen und eine dramatische Rettung, Aus dem Englischen von Evelyn Reuter, Brunnen, 352 Seiten, 17,95 EUR, ISBN: 978-3-7655-1767-9