„Anders als gemeinsam werden wir das Christentum gegen die Wand fahren“

Die Frage nach der eigenen Identität betrifft immer häufiger auch Christen und christliche Gemeinden. Warum die christliche Identität keine Feindbilder braucht und wie ein Blick in das Neue Testament die eigene Identität stärken kann.
Von PRO
Der Gnadauer Zukunftskongress „Upgrade“ soll die Gemeindebewegung neu beleben und den Blick auf Neues ausrichten

„Wir leben in einer Epoche, in der vieles unscharf, unklar und verworren ist“, sagte Thorsten Dietz, Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor. In einem Vortrag zum Thema „Identitätsfragen heute“ beim Gnadauer Zukunftskongress „Upgrade“ verwendete er als Bild für die heutige Zeit das eines Flussdeltas. „Im Delta sind die Dinge anders als vorher: Die Dinge sind unscharf, die Richtung und die Beziehungen zueinander sind unklar“, sagte er. In der heutigen Zeit täten die Menschen sich schwer zu sagen, wohin es gehe und woher man komme.

Dietz beschrieb zum einen eine globale Verunsicherung. „Die ursprüngliche Ahnung, der Westen rettet die ganze Welt, erweist sich nicht unbedingt als wahr.“ Von Asien aus betrachtet, gewinne man zum Beispiel einen ganz anderen Blick auf die weltweite Lage. Und die politischen Entwicklungen zeigten: „Demokratien sind offensichtlich alles andere als unumkehrbar.“

Verunsicherungen wecken Urinstinkte

Im christlich-religiösen Bereich machten sich viele Sorgen darüber, dass die Christenheit immer „neuzeitlicher, liberaler und moderner“ werde. Um 1900 seien die meisten Menschen davon ausgegangen, der Islam sei am Ende. Auch um 1950 „hätte niemand darauf gewettet“, dass der Islam sich so entwickele wie heute.

Dietz fasste zusammen: „Man kommt gut mit dem Leben zurecht, wenn man einigermaßen weiß, wohin man möchte.“ Menschen seien extrem belastungsfähig, wenn sie das Wohin kennen würden. Doch wer verunsichert sei, falle in Urinstinkte zurück: „Zurückschlagen oder wegrennen.“

Das habe zur Folge, dass sich Feindbilder entwickelten. „Man versucht, den Feind zu identifizieren.“ Dagegen zu sein, erscheine zunächst als die einfachste Lösung. Auf globaler Ebene seien Feindbilder der Globalismus, die „multikulturellen Eliten“, die Nationalisten oder die „fundamentalistischen Vereinfacher“. In der religiösen Welt hielten viele die Fundamentalisten für das Problem. Andere wiederum identifizierten den Liberalismus als Feindbild. „Als Christen fragen wir uns: Was ist unsere Geschichte? Können wir unsere eigene Identität noch gemeinsam formulieren?“, sagte Dietz. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich ein „Individualisierungsdruck“ entwickelt, der dazu geführt habe, dass sich einzelne Gruppen wieder abspalteten auf der Suche nach der Identität. „Denn wenn man Gesellschaften so gestalten möchte, dass sie viel Freiraum bieten, geben sie wenig Geborgenheit.“

Christliche Identität braucht keine Feindbilder

Um als Christen mit der „Gemengelage“ der Identitätsfragen umzugehen, empfahl Dietz die Orientierung an Jesus Christus und „seine Spur“ aufzunehmen. „Die Geschichten und Handlungen Jesu sind Seelsorge an verunsicherter Identität“, sagte er. In den biblischen Geschichten „arbeitet sich Jesus an den Feindbildern ab“ und nehme ihnen so das Bedrohliche. Samariter seien zum Beispiel damals nicht für ihre Barmherzigkeit bekannt gewesen, wie es in der Geschichte des barmherzigen Samariters aber zu lesen ist. „Zöllner waren Verräter oder Kollaborateure.“ Und doch habe der Zöllner Zachäus sich als Wiedergutmacher erwiesen. „Jesus entwindet den Menschen die Feindbilder. Denn sie sind nicht die Lösung.“

Die christliche Identität habe es nicht nötig, starre Feindbilder zu entwickeln. Die christliche Identität sei „immer dafür offen, was Gott aus uns machen kann“. Sie sei in Christus begründet. Unterschiede seien zwar nicht weg, sie würden durch die Identität in Christus aber relativiert. Christliche Identität lebe zudem von Gemeinschaft und Beziehungen. „Paulus bezeichnet uns als Leib Christi: Eins in der Vielfalt.“ Und letztlich sei die christliche Identität ein Prozess, „ein Wachsen hin zu Christus“, das nie abgeschlossen sei.

Diese Gedanken könnten „ein Kompass sein, der auch im Delta nichts von seiner Kraft verliert“, sagte Dietz. „Auch wenn wir nicht wissen, wie es weitergeht: Wir leben auf ein Ziel hin.“ In diesem Zuge sprach er auch das Thema Genderdebatte an. Sie dürfe nicht in einen Kulturkampf ausarten. Auch hier sollte man sich zunächst seiner Identität in Christus bewusst sein, um nicht ideologisch zu werden. Das gelte für beide Seiten. Und für das Thema Ökumene heiße das, „akzeptieren, dass auch andere berechtigte Perspektiven haben“. Dietz ergänzte: „Anders als gemeinsam werden wir das Christentum gegen die Wand fahren.“

Von: Swanhild Zacharias

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