Im Reformationsrausch

Seit Mai ist die Stadt Wittenberg nicht mehr dieselbe. 25 Millionen Euro hat der Umbau des bedächtigen Ortes anlässlich des Reformationsjubiläums gekostet, nun soll er Touristen aus aller Welt anziehen. pro hat die Weltausstellung der Protestanten besucht und zwischen Jahrmarkttrubel, Kunst und Gesellschaftskritik nach Martin Luther gesucht.
Von PRO
Die vielleicht umstrittenste Einrichtung dieser Weltausstellung: Ein Riesenrad, in dem Seelsorger sich um jene kümmern wollen, die die Stille und das Gespräch dem jahrmarktähnlichen Trubel der Stadt vorziehen. Am Mittwoch ziehen die Macher der Weltausstellung in Wittenberg Halbzeitbilanz.

Etwas stimmt nicht in Wittenberg dieser Tage. Am stadtbekannten Schwanenteich, gleich am Rande des Stadtzentrums, ist ein Unglück geschehen. Statt weißem Federvieh treiben rund ein Dutzend Bootswracks im Gewässer. Wie Skelette liegen die schlichten Konstrukte aus geflochtener Weide und Holzlamellen in der Sonne. Nichts bewegt sich auf der Wasseroberfläche, am Ufer putzt eine Ente gemütlich ihr Gefieder. Ein paar Fußgänger tauchen am Rand des Teichs auf. Der eine knipst die untergegangenen und schief im Wasser liegenden Boote. „Hier drüben ist die Sicht besser. Unter der Trauerweide“, sagt er zu seiner Begleitung. Noch ein paar Fotos, dann wandern die beiden weiter und lassen den Unglücksschauplatz hinter sich.

Bootsskelette: Als ein Mahnmal für im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge Foto: pro/Anna Lutz
Bootsskelette: Als ein Mahnmal für im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge

Tatsächlich ist in Wittenberg niemand im Schwanenteich ertrunken, noch nicht mal ein Boot ist gekentert. Als ein Mahnmal für die tausenden im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge haben Studenten der Fachhochschule Salzburg die Holzbauten ins Wasser gebracht. Sie sind Teil der Weltausstellung Reformation und gehören zum sogenannten Torraum „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Sieben solcher Räume sind anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums in Wittenberg zu sehen. Torräume heißen die Themenbereiche deshalb, weil sie entlang des Stadtwalls angeordnet sind und so wie Tore jeweils den Zugang zu Wittenberg ermöglichen. Acht Kunstinstallationen sollen den Besuchern innerhalb der Torräume verschiedene Themen näherbringen, die die Relevanz der Lehre Martin Luthers in der Gegenwart verdeutlichen.

25 Millionen Euro hat sich der Verein „Reformation 2017“, bestehend aus evangelischen Kirchen und nahestehenden Organisationen, den Umbau des Ortes zum Lutherland kos­ten lassen, finanziert zu je einem Drittel aus staatlichen und kirchlichen Mitteln sowie durch Sponsorengelder. 500.000 Besucher erwarten die Veranstalter in den 16 Wochen der Weltausstellung bis zum 10. September. Geplant sind 2.000 Veranstaltungen, zum Programm gehören zahlreiche Konzerte und Gottesdienste sowie eine Kunstausstellung mit internationalen Größen wie Ai Weiwei oder Jonathan Meese. Mehr geht nicht.

Eine 30 Meter hohe Bibel

Besuchern wird das schon klar, wenn sie den Bahnhof der Lutherstadt erreichen. Auf der ortsabgewandten Seite stehen am Eröffnungstag noch Bagger, Überbleibsel von den monatelangen umfangreichen Umbaumaßnahmen im ganzen Stadtgebiet. Nicht umsonst unterließ es Oberbürgermeister Torsten Zugehör bei keinem Pressetermin, die Geduld der Anwohner zu loben. Wittenberg vor dem Reformationsjubiläum war ein verschlafenes Örtchen mit 50.000 Einwohnern, in das sich ab und an Touristen verirrten, um die Schlosskirche mit der Tür, an die Luther einst seine Thesen geschlagen haben soll, zu begutachten. Wittenberg heute musste allein am Kirchentagswochenende 200.000 Besucher in wenigen Stunden aushalten.

Am Bahnhofsausgang erhebt sich seit Kurzem eine 30 Meter hohe Lutherbibel. Das Stahlgerüst, umgeben von einer Plane, die den Anschein einer überdimensionalen Heiligen Schrift erweckt, ist begehbar. Von oben blicken Besucher auf die instandgesetzte Stadt. „Willkommen“ ist der Titel dieses Torraums. Wer die 162 Stufen des Turms besteigt, soll den Weg durch die Weltausstellung mit einem Perspektivwechsel beginnen. Beim Aufstieg leiten an der Treppe angebrachte Zitate den Gast, etwa auf Höhe von Stufe 108: „Die Bibel ist meine Kraftquelle.“ Möglicherweise eine notwendige Motivation bei sommerlichen Temperaturen. Reformationsbotschafterin Margot Käßmann hat im Vorfeld immer wieder erklärt, die riesige Bibel solle klarmachen, um was es den Veranstaltern eigentlich gehe. Einige Meter weiter, auf dem Weg in die Stadt, gibt es an einem Straßenstand Luther-T-Shirts zu kaufen.

Segensroboter „Bless U 2“ Foto: pro/Anna Lutz
Segensroboter „Bless U 2“

Im schon seit vergangenem Jahr geöffneten Asisi-Panorama erleben Besucher Wittenberg vor 500 Jahren. Ein 360-Grad-Bild und eine Geräuschkulisse inklusive Pferdegetrappel, Marktgesprächen und Feuergeknister schaffen die perfekte Illusion. Der Blick auf die Schlosskirche zeigt einen Mönch, vielleicht Luther selbst, der Flugblätter verteilt. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ steht darauf. Gleich hinter dem Mann in schwarzer Kutte ruft ein katholischer Priester die Massen zum Gottesdienst. Auf dem Marktplatz verkaufen katholische Geistliche Ablassbriefe, nebenan diskutiert ein Lutheraner mit Käufern über die Gnade Gottes. So könnte es sich angefühlt haben, als Luther tatsächlich innerhalb der Stadttore wandelte, seine Lehre entwickelte, druckte und damit eine Revolution auslöste.

Segen von Roboterhand

Bei der Weltausstellung sind auch die Landeskirchen mit eigenen Ständen, Zelten und Installationen vertreten. Gleich neben einer „Lichtkirche“ der Hessen-Nassauer wartet ein ungewöhnlich anmutender Segen auf die Besucher. Weitergegeben wird der nämlich nicht von Menschenhand. Wer den Segensroboter „Bless U 2“ – weiße Farbe, etwa zwei Meter groß, vertrauenswürdige Augen, leuchtende Hände – bedient, kann zwischen einer weiblichen und männlichen Stimme wählen. Er darf sich per Knopfdruck aussuchen, ob er etwa einen traditionellen Segen wünscht und ob er das Ganze auch schriftlich haben möchte. „Warum fühlt es sich für Sie seltsam an, von einem Roboter gesegnet zu werden?“, fragt einer der Aussteller eine Reporterin, die das Geschehen mit der Kamera gefilmt hat. „Wenn Sie über diese Frage nachsinnen, ist unser Ziel schon erreicht“, erklärt er den Zweck der eigenwilligen Installation.

Schwebende Kunstinstallation Foto: pro/Anna Lutz
Schwebende Kunstinstallation
Plakat „Luther & The Avant Garde“ Foto: pro/Anna Lutz
Plakat „Luther & The Avant Garde“

Einer der umfassendsten Torräume auf dem Gelände ist der zum Thema „Ökumene und Religion“. Fünf Glaubensfeste der Weltreligionen sollen hier gefeiert werden, erklären die Veranstalter: Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus und Hinduismus sind vertreten. Das alles geschieht im „Luthergarten“. Hier pflanzen Vertreter von Kirchen weltweit Bäume, die als lebendiges Denkmal an den Reformator erinnern sollen. Der Blick gen Himmel zeigt durchsichtige Röhren, die an Netzen im Blätterwald hängen und im Dunkeln bunt leuchten. Hier sollen Gäste Wunschzettel einbringen. Die vielleicht umstrittenste Einrichtung dieser Weltausstellung findet sich gleich nebenan in Form eines Riesenrads, in dem Seelsorger sich um jene kümmern wollen, die die Stille und das Gespräch dem jahrmarktähnlichen Trubel der Stadt vorziehen. Dabei erinnert das Fahrgeschäft selbst an Kirmes. „Zwischen Himmel und Erde“ steht zwar in der Mitte des roten Rades. Ansonsten besagt eine Leuchtschrift über dem Tickethäuschen, dass dieses Riesenrad zu mieten sei. Wer nicht schon vorher weiß, dass es hier darum gehen soll, sich in Lebensfragen beraten zu lassen oder einfach nur das Herz auszuschütten, der wird wohl eher einsteigen, um die Aussicht zu genießen. Die immerhin lohnt sich.

Taufe erleben

Ein Besucher auf dem Marktplatz hat scheinbar genug von Ökumene und abstrakter Kunst. Wie als Protest gegen den Abstrahierungsgrad vieler Installationen und das Feiern nichtchristlicher Glaubensfeste im Namen Luthers trägt er zwei Schilder vor Bauch und Rücken: „Jesus Christus starb für Gottlose“, steht darauf. „Kehre um“ ist auf einem orangefarbenen Flyer zu lesen, den er Vorbeilaufenden in die Hand drückt. Dezenter verpackt diese Botschaft die Hannoversche Landeskirche in ihrem „Erlebnisraum Taufe“.

Wer eintritt, erlebt einen in blau getauchten stillen Raum, Langflor-Teppich umschmeichelt die vom vielen Laufen strapazierten Füße, Bibelverse an den Wänden weisen aufs Thema hin. Nach einem kurzen Willkommen geht es weiter in einen kleinen Kinosaal mit Kissen und 180-Grad-Bildschirm. Ein Film beginnt, er zeigt zerbrochene Steinmenschen, Wasserfluten und die Verwandlung des Einzelnen in Lichtpunkte, die gen Himmel streben. Wer nun denkt, das könne so auch bei Scientology gezeigt werden, hat das Ende der Vorstellung nicht erlebt. Die nämlich ist äußerst persönlich: In einem Nebenraum, durch den der Besucher das Gebäude wieder verlässt, wartet ein Geistlicher an einem steinernen Becken. „Sind Sie getauft?“, fragt er. „Ja“, die Antwort. „Möchten Sie Ihr Bekenntnis erneuern?“ „Ja.“ Er zeichnet ein unsichtbares Kreuz mit Wasser aus dem Becken auf den Handrücken des Gastes und spricht einen Segen. Auch das ist Reformation. (pro)

Dieser Text ist der aktuellen Ausgabe 3/2017 des Christlichen Medienmagazins pro entnommen. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.

Von: Anna Lutz

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