Das System Ratzinger: Machterhalt durch Schweigen und Leugnen

Da ist ein Papst, der nur das Beste für seine Kirche will – und trotzdem hilflos mit zusah, wie sie in einen Strudel aus sexuellem Missbrauch, Lügen und Vertuschung gerät. Der britisch-deutsche Filmemacher Christoph Röhl analysiert in seiner Dokumentation „Verteidiger des Glaubens“ das System Papst Benedikt XVI., das eigentlich vielmehr ein „System Katholische Kirche“ war. Eine Filmkritik von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
Die kritische, aber äußerst sehenswerte Dokumentation „Verteidiger des Glaubens“ startet am 31. Oktober 2019 in den deutschen Kinos

Über fünf Jahre forschte der Regisseur Christoph Röhl für diesen Film. Ihm war aufgefallen, dass Joseph Ratzinger einerseits als Kardinal der Erneuerung galt, andererseits später als Papst eine strikt erzkonservative Richtung vorgab. Wie passte das zusammen? In seinem Film „Verteidiger des Glaubens“ lässt Röhl zahlreiche Wegbegleiter, ehemalige Priester und Opfer von körperlichem oder seelischem Missbrauch zu Wort kommen. Sogar den Privatsekretär des Papstes, Georg Gänswein, konnte Röhl für ein Gespräch gewinnen. Allerdings soll sich der als unzufrieden mit dem fertig geschnittenen Film gezeigt haben, berichtete Röhl bei einer Vorab-Präsentation am Mittwoch in Frankfurt.

Was zunächst wie eine Dokumentation nur über Joseph Ratzinger und dessen steilen Aufstieg innerhalb der Katholischen Kirche daherkommt, entpuppt sich mehr und mehr als eine messerscharfe Analyse eines ganzen Systems. Die Katholische Kirche kommt dem Betrachter des Films oft viel eher wie ein milliardenschweres Börsenunternehmen vor, das sich angesichts einer Image-Krise mit allen Mitteln selbst zu schützen versucht. Der Glaube an Gott steht ganz hinten an – falls er überhaupt noch eine Rolle spielt.

Laut Röhl handelt es sich bei der Katholischen Kirche um ein „System, das für sich eine absolute Wahrheit in Anspruch nimmt. Und wenn das dann dazu führt, dass alle anderen Wahrheiten geleugnet werden, führt das zu Missbrauch“. Er meint nicht nur den sexuellen Missbrauch, der so oft beschrieben, angeklagt und diskutiert, und dennoch von den Kirchen-Oberen so oft und so dreist verschwiegen und verleugnet wurde. „Was passiert, wenn man andere Wahrheiten abwertet?“, fragte Röhl bei der Filmvorführung mit anschließender Diskussion mit dem Publikum. Wenn Opfer sich überwinden und endlich anfangen zu reden über das Unrecht, das ihnen angetan wurde, fällt den „heiligen Vätern“ der Kirche oft nichts Besseres ein, als zu relativieren, zu leugnen oder Anschuldigungen totzuschweigen. Manche Opfer, wie eines, das im Film zu Wort kommt, mussten sich sogar gefallen lassen, selbst als Lügner diffamiert zu werden. Wie demütigend muss es sein, von einer Kirche nicht nur als Kind verletzt worden zu sein, sondern auch noch als Erwachsener in den Dreck gezogen zu werden, anstatt eine Entschuldigung zu hören?

Missbrauchsopfer sind die geringste Sorge

Röhl arbeitete von 1989 bis 1991 als Englisch-Tutor an der Odenwaldschule. 2010 drehte er mit „Und wir sind nicht die Einzigen“ einen Dokumentarfilm über die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule. Der Film gewann 2012 den Robert-Geisendörfer-Preis, den Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für den Spielfilm „Die Auserwählten“ (2013) zum selben Thema drehte er am Originalschauplatz mit Ulrich Tukur als Leiter der Odenwaldschule.

Seine sehenswerte 90-minütige Dokumentation „Verteidiger des Glaubens“ zeigt, wie das „System Kirche“ funktioniert, und das ganz nüchtern, faktenbasiert und ohne Häme. Joseph Ratzinger wird dargestellt als jemand, der die Ordnung liebt. In einer streng katholischen Gegend wuchs Ratzinger bei Eltern auf, die Maria und Joseph heißen, seine Schwester heißt Maria, sowohl er selbst als auch sein Bruder Georg wurden Priester. Als ordnungsliebender Katholik wollte Ratzinger die Kirche beschützen – mit klaren Regeln der reinen katholischen Lehre. Das Weltbild dahinter: Der Teufel versuche permanent, in diese Kirche einzudringen, manchmal „wie Rauch durch die Türritzen“, wie es ein Wegbegleiter sagt. Für Papst Benedikt XVI. war die Katholische Kirche eine Insel des Heils inmitten der „Diktatur des Relativismus“, und diese Insel muss verteidigt werden.

Nun wurden die Rufe unzähliger Opfer sexuellen Missbrauchs ausgerechnet in der Pontifikatszeit Benedikts immer lauter. In seinem Versuch, das Problem durch Ignorieren aus der Welt zu schaffen, erscheint die Katholische Kirche bei Röhl wie eine letzte alte Monarchie, die sich über ein weiteres Jahrhundert retten will. Was diese Monarchie am Leben erhält, ist das Vertrauen (und das Geld) der Gläubigen weltweit. Deswegen herrscht auch so große Angst vor Kirchenaustritten. Diese Sorge ist sogar größer als diejenige darüber, wie es wohl all den Tausenden von Missbrauchsopfern gehen könnte, und diejenige, ob es vielleicht noch viel mehr gibt. Viele Katholiken erschüttert überhaupt nicht, dass Kinder sexuell missbraucht wurden, sondern dass jemand die Dreistigkeit hat, die Kirche damit zu konfrontieren, legt der Film nahe.

Auch am Abend der Diskussion wurden mehrere solcher Stimmen laut. „Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, wie viele Kirchenaustritte Sie mit einem solchen Film auslösen?“, fragte dann auch tatsächlich ein Mann den Regisseur vorwurfsvoll nach der Vorführung. So als seien nicht die pädophilen Priester das Problem, sondern die Opfer, die darüber reden möchten, und ein Filmemacher, der ihnen eine Stimme verleiht.

Eine Organisation, die Menschen schadet, aber laut aufschreit, wenn man auf diesen Missstand aufmerksam macht – kann das eine Kirche sein? Eine Organisation, die den Erhalt ihres eigenen Heils zum obersten Prinzip macht und ihre Mitglieder lieber mit Lügen still halten möchte, nennt man Sekte.

Urchristliche Werte mit Füßen getreten

Drei Worte stehen am Schluss des so wichtigen Films auf Plakaten einer Demonstration in Südamerika gegen den Missbrauchsskandal. Die drei Worte, drei Forderungen an die Kirche, lauten: Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit. Die Katholische Kirche agiert im Falle des Missbrauchsskandals genau konträr dazu. Seit den Fünfzigerjahren wussten die obersten Kardinale der Kirche nachweislich von den Missbrauchsfällen. Auch Kardinal Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., waren die Vorwürfe bekannt. Doch das einzige, was die Kurie jahrzehntelang meistens unternahm, war, die pädophilen Priester von einer Pfarrstelle zu einer anderen zu versetzen.

Für Röhl, der sich als Atheist bezeichnet, war frappierend, dass Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit doch eigentlich die urchristlichen Werte seien und dass genau diese von der Katholischen Kirche vor aller Welt sichtbar mit den Füßen getreten werden. Was würde Gott tun? Was würde Jesus tun? Wahrscheinlich würde er sich als erstes um die verletzten Seelen der missbrauchten Opfer kümmern. Doch darum geht es der Kirche scheinbar überhaupt nicht, wenn man Röhls Dokumentation Glauben schenken darf. Ihr geht es um den Erhalt der Dynastie. Daher ist der Titel des Films falsch gewählt. Der Papst ist kein „Verteidiger des Glaubens“. Er ist der Verteidiger der Kirche.

„Verteidiger des Glaubens“, Regie: Christoph Röhl, 90 Minuten, Real Fiction Filmverleih, Kinostart: 31. Oktober 2019

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