Falsche fromme Gesichter

Ein junger Mann bekommt nach einem Unfall ein neues Gesicht. Seine fromme Umwelt behält ihr falsches. Der Berlinale-Film „Twarz" zeichnet mit viel schwarzem Humor und ernster Kritk ein drastisches Bild der polnischen Gesellschaft – und der Kirche. Eine Filmkritik von Anna Lutz
Von Anna Lutz
In „Twarz“ verliert ein junger Pole im wörtlichen Sinne sein Gesicht

Der junge Pole Jacek (Mateusz Kościukiewicz) ist frisch verlobt, lebt auf einem Hof in der polnischen Provinz, geht sonntags in die Kirche und samstags feiern, liebt die Band Metallica und lacht auch mal über rassistische Witze. Sein Umfeld ist von einer tiefen Frömmigkeit geprägt. An Weihnachten lässt die Familie am Tisch symbolisch einen Platz für Jesus frei, der Kirchgang ist obligatorisch, ebenso die wöchentliche Beichte.

Als der Dorfpfarrer den Bau der weltweit größten Christusstatue anregt, packt der ganze Ort mit an – auch Jacek. Doch während der Arbeiten stürzt er von einem Baugerüst und verletzt sich schwer. Zum ersten Mal führen Ärzte in Polen eine Gesichtstransplantation durch. Der Eingriff glückt und Jacek lernt, mit seinem neuen Äußeren zu leben. Nur die Dorfgemeinschaft kann sich nicht an das fremde Gesicht in ihrer Mitte gewöhnen.

Exorzismus für die Visage

Das ist die Geschichte des polnischen Berlinale-Wettbewerbsfilms „Twarz“ (Gesicht) der Regisseurin Małgorzata Szumowska. Nun gibt es viele Filme, die Menschen zeigen, denen ein Schicksalsschlag den Lebensmut raubt. Hier aber ist es nicht Jacek selbst, der unter seiner Entstellung leidet. Mit viel Humor und Gelassenheit nimmt er das neue Leben in Kauf. Stattdessen ist es seine Umwelt, die ihn ablehnt und gnadenlos auflaufen lässt. Da wäre etwa seine Großmutter, die beim Pfarrer erklärt, ihr Enkel sei wegen des neuen Gesichts wohl vom Teufel besessen. Der Geistliche organisiert zugleich einen Exorzismus.

Jaceks Schwager beschwert sich bei der Beichte darüber, dass seine Frau ihm kaum noch Aufmerksamkeit schenkt, seit sie sich um „die Visage“ kümmern müsse. Und Jaceks Verlobte meidet ihn und sucht sich schließlich einen anderen Mann. Auch die vordergründig so hilfsbereite Kirchgemeinde unterstützt die Familie Jaceks nur anfänglich mit Spendengeldern für Medikamente. Mit der Zeit füllt sich der Klingelbeutel im Gottesdienst nur noch spärlich. Dafür wächst die Jesus-Statue, deren Bau wegen des Unfalls unterbrochen werden musste, und wird schließlich – wenn auch mit einem Schönheitsfehler – fertig gestellt.

Pomp schlägt Nächstenliebe

„Twarz“ ist vor allem ein Film über fromme Deckmäntelchen – nicht nur in der polnischen Gesellschaft. In der Dorfkirche predigt der Pfarrer Nächstenliebe, steckt sich die Spendengelder für Jacek aber hinter vorgehaltener Hand selbst ein. „Die Leute werden einen Schuldigen suchen“, sagt er noch im Krankenhaus zu Jacek und meint damit einen Verantwortlichen für die unterbrochenen Bauarbeiten an der Jesus-Statue, für die sich alle so einsetzen. Pomp schlägt Nächstenliebe, vermittelt die Regisseurin damit und spitzt ihre Charaktere so sehr zu, dass aus der eigentlich dramatischen Handlung eine schwarze und durchaus kurzweilige Komödie wird.

Auch wenn der Film vor allem ein finsteres Bild der polnischen Gesellschaft zeichnet, hält er Fragen für jede fromme Gemeinschaft parat. Wie sehr sind sie in der Lage, (vermeintlich) Fremde zu integrieren? Wie wichtig sind zum Beispiel den Kirchen großspurige Symbole und wo bleibt bei aller Beschäftigung mit der eigenen öffentlichen Präsenz der einzelne Mensch?

Die Geschichte der weltgrößten Jesus-Statue in Polen ist übrigens wahr. 2010 wurde sie auf einem Hügel im Westen des Landes errichtet und ist mit 36 Metern höher als das bekannte Vorbild in Rio de Janeiro. Die Baukosten in Höhe von 3,5 Millionen Euro wurden ausschließlich aus Spenden gedeckt. Für den Jacek im Film hätte sicher schon ein minimaler Anteil davon gereicht, um alle Medikamentenkosten zu decken. Doch das ist Spekulation. Denn über einen Unfall beim echten Bau ist nichts bekannt.

Von: Anna Lutz

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