Die Rachegeschichte aufbrechen

Der deutsche Film „Zwischen den Jahren“ bricht auf der Berlinale das Schema des Rachefilms auf. Er stellt Fragen nach bezahlbarer Schuld und löst die Rollen von Täter und Opfer auf. Eine Filmkritik von Michael Müller
Von PRO
Becker (Peter Kurth, r.) hat zwei Menschen auf dem Gewissen

„Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …“, betet an jedem Morgen Becker (Peter Kurth). Der wortkarge Mann mit den vielen Tattoos hat fast zwanzig Jahre für den Mord an einer Frau und einem Kind im Gefängnis gesessen. Von seiner Rockerbanden-Vergangenheit losgesagt, arbeitet er nun für einen Wachdienst. Er mag es, mit den Wachhunden seine Runde zu drehen. Einen hat er so lieb, dass er ihn nach der Schicht regelmäßig mit nach Hause nimmt. Mit der alleinerziehenden Rita (Catrin Striebeck) findet Becker sogar das Liebesglück wieder.

Wäre da nicht dieser zufällige Blick in der U-Bahn gewesen. Becker weiß, dass er den verwahrlosten Mann auf der Sitzbank kennt. Aber woher? Er fühlt sich jedenfalls verfolgt. Als er seine Wohnung verwüstet vorfindet, beginnt Becker, auf eigene Faust zu ermitteln. Der Mann, der ihn terrorisiert, ist Dahlmann (Karl Markovics). Es waren dessen Ehefrau und Tochter, die Becker auf dem Gewissen hat.

„Zwischen den Jahren“ ist der zweite Spielfilm des Regisseurs Lars Henning, der seine Weltpremiere in der Berlinale-Sektion „Perspektive Deutsches Kino” gefeiert hat. Hier wird deutschsprachigen Nachwuchstalenten eine Chance gegeben, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

Keine Rachegeschichte, wie sie Hollywood erzählt

Wie schwierig kann Vergebung sein, wenn der Mörder der eigenen Familie frei auf der Straße herumläuft, Spaß hat und sogar glücklich ist? Welche Abbitte kann ein Mensch leisten, wenn er das Leben eines anderen Menschen so zerstört hat, dass dieser ein psychisches Wrack ist und wegen der damaligen Tat heute hochverschuldet sein Dasein dahinfristet?

Becker trifft Dahlmann zur Aussprache in einem chinesischen Restaurant. Diese Szene ist der emotionale Kern des Films. Das ist nicht die Hollywood-Version der Rachegeschichte, wie sie zum Beispiel Martin Scorsese unwiderstehlich in seinem Thriller „Kap der Angst“ erzählt hat. Es gibt keinen diabolischen Robert De Niro, der Zigarre rauchend im Dunkeln sitzt und ganz genau weiß, wie er den Familienvater, der ihn damals ins Gefängnis gebracht hat, in den Wahnsinn treiben wird. Nachdem Dahlmann Becker beschrieben hat, wie alt heute seine Tochter wäre, dass sie wahrscheinlich studieren und längst zuhause ausgezogen wäre, rennt Becker auf die Toilette, um sich zu übergeben. Dieser Dialog in der Mitte des Films ist ein Schauspielerduell der Extraklasse zwischen Karl Markovics und Peter Kurth.

Emotionale Tour de Force

Der ehemalige Rocker bietet Dahlmann finanzielle Kompensation an, aber das macht alles noch schlimmer. Zumal Becker für Dahlmann durch seine frische Liebe zu Rita und ihrem Jungen verletzbarer geworden ist. Regisseur Henning zeichnet Becker als geläuterten Menschen. Einen entscheidenden Anteil daran muss der Gefängnispfarrer gespielt haben, dem Becker vor Weihnachten ein Geschenk vorbeibringt. Aber wer hier Täter und wer Opfer ist, wo die Sympathien liegen, überlässt der Regisseur ganz dem Zuschauer.

„Zwischen den Jahren“ ist ein schnörkelloses Genrewerk, das aber die typische Identifikation mit dem Rächer aufbricht. Es besitzt ein sehr gutes Auge für unscheinbare Atmosphäre, authentische Sprache und in der Hauptrolle mit Peter Kurth einen Schauspieler, der seine emotionalen Grenzen austestet. Kurths markantes Gesicht kennt der Fernsehzuschauer aus dem Frankfurter Tatort. Der Film ist eine emotionale Tour de Force voller kleiner magischer Momente, auch weil er seine Protagonisten nicht schont. Kernigeres Männerkino wird auf der Berlinale dieses Jahr schwerlich zu finden sein. (pro)

Von: mm

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