Wenn Medizin zur Religion wird

Wo man früher auf Gott vertraut hat, vertraut man heutzutage auf die Medizin. An die Stelle des Heilandes sind die „Götter in Weiß“ getreten. Diese These beschreibt der Arzt Günther Loewit in seinem informativen Buch „Sehnsucht Unsterblichkeit“. Etwas ausschweifend, aber auch unterhaltsam berichtet der Österreicher von 40 Jahren als praktizierender Arzt, und in vielem trifft er den Nagel wohl auf den Kopf. Eine Rezension von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
Günther Loewit sagt nach fast 40 Jahren ärztlicher Tätigkeit: Die Medizin hat auf vielen Ebenen die Rolle der Religion übernommen

Wieso kann der moderne Mensch eigentlich immer weniger akzeptieren, dass er irgendwann sterben muss? Anstatt das Unausweichliche anzunehmen, rennen viele Menschen zum Arzt in einer inbrünstigen Hoffnung, die sonst nur religiöse Menschen gegenüber Gott aufbringen. Das ist eine der Grundthesen des österreichischen Arztes Günther Loewit in „Sehnsucht Unsterblichkeit. Wie die Medizin zur neuen Religion der Menschen wird“.

„Seit ich vor vier Jahrzehnten begonnen habe, als Arzt zu arbeiten, ist die Mortalität des Menschen bei 100 Prozent geblieben“, stellt Loewit trocken fest. Und doch trat das Gesundheitssystem, traten die Ärzte in ihren weißen Kitteln und mit ihren unzugänglichen Wundermitteln an die Stelle einer Religion. Dabei gewinnt diese Religion immer mehr an Macht, so Loewit. Erst recht in der Corona-Pandemie sei ihm das bewusst geworden.

Für Loewit ist die Macht der Medizin bereits überbordend: „Zeugung, Geburt, Kindergarten, Schulwechsel, ein neuer Job, die Aufnahme in den Staatsdienst oder gar das Sterben am Ende des Lebens: Die Zustimmung der Medizin ist erforderlich.“ Acht bis zehn Prozent aller Föten würden mit Hilfe der Medizin entstehen; jede Schwangerschaft werde heutzutage medizinisch betreut, und in 33 Prozent der Fälle werde ein Kaiserschnitte vorgenommen. Und was das Sterben angeht: „Altersschwäche“ werde einfach nicht anerkannt als Todesursache. Man muss schon krank sein, um sterben zu dürfen.

Die „heil“ machen“ und die Heiligen

In der Tat gibt es viele Parallelen zwischen der Welt der Medizin und der der Kirche. Er selbst sei Agnostiker, schreibt Loewit, aber was er schon als Kind von der Katholischen Kirche und ihren Riten kennenlernte, sei ihm später als Arzt sehr vertraut vorgekommen. So wie der Priester auf mystische Weise aus Wein das Blut Christi machen könne und die Menschen vor ihm knieten beim Abendmahl in der Erwartung von Heilung und Erlösung, so werde einem Arzt eine ähnliche Ehrerbietung entgegengebracht. „Vergleichen Sie einen für das Hochamt gekleideten Bischof samt seinem Bischofsstab mit einem Gehirnchirurgen im OP-Gewand mit seinem am Kopf fixierten Operationsmikroskop, den Gummihandschuhen und dem bodenlangen blauen oder grünen Mantel“, fordert der Autor seine Leser auf. Das Wort „heil“ bedeute ursprünglich „ganz“. „Der in der Religion gebräuchliche Begriff des ‚Heiligen‘ hat also mit dem medizinischen ‚heilen‘ mehr als nur den Wortstamm gemeinsam“, so Loewit. Die Bedeutungen der Wörter finde sich im Englischen in Form von „whole“ und „holy“ wieder. Loewit hat viele solche Parallelen parat. „Die Hostie des katholischen Sonntags wird in der Medizin mehrmals täglich eingenommen. Sie heißt Tablette.“

Die „Priester“ der Medizinerkaste habe ebenfalls „Sakramente“ (oder Gebote) aufgestellt, die geradezu religiöse Züge haben: „Du sollst nicht rauchen, du sollst nicht fett essen, du sollst dich ausreichend bewegen und auf dein Gewicht achten. Du sollst keinen oder wenig Alkohol zu dir nehmen. (…) Wem das nicht genügt: Du sollst für deinen Vitamin-D-Spiegel ausreichend Sonne tanken, aber: Du sollst deine Haut nicht der Sonnenbestrahlung aussetzen.“ Wer zu viel Süßes gegessen hat, sage ja nicht umsonst „Ich habe gesündigt“. Und auch die „Lässigkeit“, mit der Jesus fast im Vorbeigehen Kranke heilte, versuchten sich Ärzte anzueignen. „Das häufig verwendete Wortspiel, Ärzte benähmen sich oft wie ‚Götter in Weiß‘, scheint leider nicht so weit hergeholt zu sein.“ Loewit fasst zusammen: „Mit den Ordensspitälern hat es schon immer eine Verschränkung von Medizin und Religion gegeben. Warum also nicht gleich die Medizin zur neuen Religion erklären?“ Und: „Wenn Glauben hilft, warum also nicht gleich an die Medizin glauben? Warum nicht die Medizinindustrie zum Kirchenstaat, Ärzte zu Priestern und Patienten zu Gläubigen der neuen Religion erklären?“

Heiligt bei Corona der Zweck die Mittel?

Besonders in der Zeit der Corona-Pandemie sei ihm die Rolle einer „vermeintlich allmächtig gewordenen Medizin“ bewusst geworden. In einer westlichen überalterten Wohlstandsgesellschaft werde die Vermeidung des Todes über alles gestellt. „Die Pandemie trifft auf eine Gesellschaft, die das Sterben als Endpunkt des Lebens aus den Augen verloren hat. Politiker werden nicht müde, jede Maßnahme, die einzelne Leben vorübergehend verlängern kann, als unabdingbar darzustellen“, schreibt Loewit und hinterfragt das Agieren der Politik in der aktuellen Krise: „Ich möchte die Frage stellen, ob tatsächlich in jeder Situation der Zweck die Mittel heiligt und ganze Volkswirtschaften lahmgelegt werden dürfen, um das Ende des Lebens noch ein wenig hinausschieben zu können.“ Heute gelte um jeden Preis: „Unsterblichkeit als Fernziel medizinischer Bemühungen? Wir arbeiten daran.“ Selbst wenn alte Menschen nur noch mittels Schutzausrüstung und Latexhandschuhen Kontakt zu anderen Menschen bekämen und schließlich an Einsamkeit stürben, werde dies in Kauf genommen.

Der Autor macht das Problem auch an einem Wegfall der Hoffnung auf einen allmächtigen Gott fest. „Inwiefern kann Hochleistungsmedizin in einer lustorientierten Gesellschaft die Rolle der Religion ersetzen? Oder übernehmen? Indem sie durch Gewährleistung von Heilung und Gesundheit das menschliche Bedürfnis nach spiritueller Anlehnung an ein höheres Wesen minimiert. Indem sie selbst zum Heilsbringer wird. Und Gesundheit zum Götzen erklärt.“ Die Medizin müsse zwangsläufig an diesen Zielen scheitern. Der menschliche Körper sei zum „Alpha und Omega“ geworden, konstatiert Loewit. „Das Leben nach dem Tod ist als Option verschwunden. Das Leben findet hier und jetzt, in einem einzigen Körper statt. Geliftet, gestrafft, mit künstlichen Gelenken und Austauschorganen versehen, aber immer noch sterblich.“

Loewit hat interessante Erlebnisse aus 40 Jahren Praxis zu erzählen, die das Buch immer wieder auflockern. Allerdings schweift er sehr häufig vom vorgeblichen Thema des Buches ab und wiederholt sich. Dennoch hat er im Kern eine interessante These vorzubringen: Der Tod muss heutzutage um jeden Preis bekämpft und das Sterben mit allen Mitteln verzögert werden. Während vormals der christliche Glaube mit seiner Ausrichtung auf ein Leben nach dem Tod im gesellschaftlichen Denken verankert war, ist nun die Unsterblichkeit das Ideal. Loewits Vergleich zwischen der Medizin und der Religion ist beachtenswert und dürfte jeden, der im Gesundheitswesen zu tun hat, interessieren. Warum nicht einfach akzeptieren, dass Menschen alt werden, was nicht gleichzusetzen ist mit Krankwerden? Und warum als Arzt nicht mal mehr Zeit für den Patienten aufbringen und ihm einfach nur zuhören? Priester können das ja auch.

Günther Loewit: „Sehnsucht Unsterblichkeit. Wie die Medizin zur neuen Religion der Menschen wird“, Goldegg, 260 Seiten, 24 Euro, ISBN 9783990601785, erscheint am 27. September 2020

Von: Jörn Schumacher

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