„Luther versperrt den Blick auf Gott“

Heiner Geißler, langjähriger CDU-Politiker und vielschreibender Philosoph, hält nichts von der Rechtfertigungslehre der Kirchen. Anlässlich des Reformationsjubiläums rechnet er in einem neuen Buch mit der Lehre Martin Luthers ab, die den Blick auf Gott versperre. Eine Rezension von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
Heiner Geißler glaubt nicht an Luthers Botschaft vom Sühnetod Christi

In seinem Buch „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss? Fragen zum Luther-Jahr“, das im Ullstein-Verlag erschienen ist, philosophiert Heiner Geißler über 75 Seiten hinweg über die frustrierende Frage, warum Gott Leid zu lässt. „Das Reformationsfest anlässlich des Jubiläums beschäftigt sich mit dieser Frage kaum“, schreibt Geißler. Er studierte als Mitglied des Jesuitenordens einst Philosophie, später Rechtswissenschaften, war 25 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestages, Landesminister, Bundesminister, Schlichter von Stuttgart 21 und Autor zahlreicher Bestseller, unter anderem von „Sapere aude!“ und „Was müsste Luther heute sagen?“.

Angesichts von Millionen von Kindern, die in der Welt misshandelt werden, und Hunderttausenden, die getötet werden, lese man bei Luther die „schauerliche These, Leben, Schuld, Himmel und Hölle, also das Schicksal des Menschen, sei von Gott vorherbestimmt“. Angesichts der Krankheiten in der Welt fragt der ehemalige Politiker: „Gibt es einen Gott, der krebs- und polioerkrankte Kinder ‚wunderbar‘ erschaffen hat.“

Luther sei sein Leben lang von Krankheiten geplagt gewesen, „vor allem von Nieren- und Blasensteinen und deren blutigen Abgängen“. Er habe daraufhin die eigenen Sünden mitverantwortlich dafür gemacht. Vor allem aber habe Luther gemeint, man solle Gott nicht die Frage stellen, warum er dieses oder jenes tue. Geißler schließt daraus: „Der Mensch soll keine dummen Fragen stellen.“ Auf den Einwand, der Mensch habe doch aber von Gott den freien Willen bekommen, weil er ihn nur freiwillig lieben könne und nicht gezwungenermaßen, antwortet Geißler: „Aber was ist das für ein Gottesbild?“ Gott nehme für diese Liebe in Kauf, dass Menschen sterben und leiden.

Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche verharrten, „was die Interpretation von massenhaftem Leid und Elend unter den Menschen betrifft, im Zustand eines geistigen Feudalismus“. Die Lehre von der Rechtfertigung durch Jesus und der Gnade Gottes verleugne die politische Botschaft des Evangeliums, also vor allem die Nächsten- und Feindesliebe und die Fürsorge für die Schwächsten.

Nur die Nächstenliebe zählt

Zur Lehre von der Erbsünde merkt Geißler an, damit schaffe es die christliche Theologie, dass Gott sich nicht für das Leid auf dieser Erde zu rechtfertigen habe. „Das ist die simpelste Lösung und Antwort auf die Frage nach dem gerechten Gott.“ Geißler fährt fort: „Für die evangelische Kirche ist der Mensch bekanntlich ohnehin von Grund auf verdorben. Die Verzweiflung, in die gläubige Menschen mit dieser Theorie gestürzt werden, ist beabsichtigt.“ Die Kirchen sollten „diese schwere Verletzung und Beleidigung der menschlichen Würde“ aus der Welt schaffen, findet Geißler.

Sein Gottesbild ist entsprechend undefiniert: „Warum zeigt sich Gott eigentlich nicht richtig? Und allen? Was soll das Versteckspiel? Gibt es ihn wirklich, dann ist er ein Wesen, das mit den Menschen spielt.“

In dem Buch „Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ lauschen wir dem 87-jährigen Geißler bei seinen – häufig zynisch gestellen – Fragen. Der von den beiden großen Kirchen äußerst enttäuschte Jesuit kann mit dem Glauben an den Erlösertod Jesu nichts anfangen, bietet in seinem Buch aber auch keine alternativen Antworten. Die Kapitel folgen keinem erkennbaren stringenten Aufbau, manchmal schweifen die Gedanken auch ab und oszillieren zwischen Star Trek, Higgs-Bosom, Buddha und Sartre.

Geißler stellt fest: „Der Glaube an diesen Gott gibt uns keine Antwort, welchen Sinn das Leiden auf der Erde hat. Wir müssen also mit der Sinnlosigkeit des Leidens leben.“ Im Hinblick auf das Reformationsjubiläum schreibt er: „Die Sündentheologie des Martin Luther, die Erbsündenlehre des Paulus und Augustinus und die Rechtfertigungsdogmen beider Kirchen, die den Menschen alle Schuld zuschieben, sind nicht maßgebend für das Christsein und versperren den Weg zu einem möglichen Gott.“ Viel wertvoller sei das Praktizieren des Nächstenliebe. Und die sei ja sogar unabhängig von Religionen und Grenzen.

Geißler bezeichnet sich zu Beginn des Buches selbst als „getauften Christen“, der dies auch bleiben wolle. Allerdings beschleicht den Leser immer wieder das Gefühl, dass er die Bibel ausschließlich politisch verstehen will. Den Heilsaspekt, die Botschaft von der Erlösung durch das Blut Jesu, blendet er völlig aus, ja, geht ihn sogar äußerst kritisch an. So kann es in seinem Buch im Lutherjahr nur zu einem Konflikt kommen zwischen dem politisch denkenden Geißler und einem Martin Luther, dem die Rechtfertigung ausschließllich durch den Glauben, und nicht durch Taten, am wichtigsten war. (pro)

„Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss? Fragen zum Luther-Jahr“, Ullstein, 80 Seiten, 7 Euro, ISBN 9783550050060

von: js

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