Das Leben ohne Mirco

Am 3. September 2010 wurde der zehnjährige Mirco Schlitter missbraucht und ermordet. Darüber, wie ihnen ihr Glaube in dieser Zeit geholfen hat, haben seine Eltern Sandra und Reinhard bereits in Fernsehsendungen berichtet – die  Familie gehört einer evangelischen Freikirche an. Nun haben die Schlitters ein bewegendes Buch geschrieben.
Von PRO

"Mircos Tod hat uns gezeigt, wie dünn das Eis des Glücks ist, auf dem wir Menschen unser Leben lang unsere Pirouetten drehen."

Es sind Sätze wie dieser von Reinhard Schlitter, in denen die Ambivalenz von Leid und Hoffnung, Trauer und Weiterleben, Erinnern und Loslassen illustriert wird. Reinhard Schlitter und seine Frau Sandra leben mit diesen Gefühlen seit dem 3. September 2010, jenem Tag, als sie ihren Sohn Mirco zum letzten Mal gesehen haben. Der Zehnjährige kehrt abends nicht zu seinen Eltern und den drei Geschwistern nach Hause zurück, bleibt 145 Tage lang verschwunden. Rund um Mircos Heimatort Grefrath starten die Behörden die größte Suchaktion in der Geschichte der Bundesrepublik. Doch das Schicksal des Jungen bleibt ungewiss, über seinen elften Geburtstag hinaus, den die Familie im kleinen Kreis feiert.

"Mirco – Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen" beginnt mit dem Tag, "der alles anders machte". Sandra Schlitter erzählt, wie sie an jenem Freitag um halb sieben die Kinder weckt, Pausenbrote schmiert, Mirco am Tor zum Schulhof verabschiedet. Der Leser begleitet sie beim Kuchenbacken und Staubsaugen, minutiös und beklemmend, wohl wissend, welches Unheil in wenigen Stunden über die Familie hereinbrechen wird.

Die Familie bemerkt das Verschwinden des Jungen erst am Samstagmorgen, wendet sich an Freunde, Krankenhäuser, schließlich die Polizei. Mircos älterer Bruder Alex druckt ein kürzlich geschossenes Urlaubsfoto aus, auf dem sein Bruder in Frankreich am Strand steht. Es wird in Kürze auf Plakate gedruckt und landesweit im Fernsehen gezeigt werden. "Wir beten ununterbrochen", schreibt Sandra Schlitter. "Wir suchen verzweifelt nach etwas, irgendetwas, an das wir uns klammern können. Die Möglichkeit einer Nachricht aus einem Krankenhaus mussten wir schon am Morgen ausschließen – es wurde kein Kind im Alter von Mirco eingeliefert. Ich will diesen anderen, schrecklichen Gedanken nicht zulassen. Ich will mich an der Hoffnung festhalten, dass Mirco lebend wiederkommt."

Die Polizei befragt die Familie, sucht mit einem Hubschrauber nach Mirco. Unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Ingo Thiel wird eine Sonderkommission gebildet. Die Ermittler und Betreuer vom Opferschutz stecken die Schlitters, die einer charismatischen evangelischen Freikirche angehören, zunächst in eine religiöse Schublade. "Ich merke, dass unser Verhalten die Opferschutz-Mitarbeiter wirklich irritiert", schreibt Sandra Schlitter. Sie habe an ihren Gesichtern Fragen wie "Haben die Schlitters vielleicht eine Schramme? Sind die irgendwie schräg drauf?" wahrgenommen. Auch Kommissar Thiel gibt zu, diesem Vorurteil erlegen zu sein, aber: "Von diesem ersten Gedanken habe ich mich ganz schnell wieder verabschiedet. Als ich zum ersten Mal Familie Schlitter begegnete, wurde mir klar: Die haben nicht nur mit der ganzen Geschichte kriminalistisch gesehen nichts zu tun, sie sind auch wirklich tolle Menschen – keine Spur von Spinner!" Oder, wie Sandra Schlitter es ausdrückt: "Wir sind eine ganz normale Familie, die eben auch gläubig ist."

Sandra und Reinhard Schlitter haben ihr Buch gemeinsam mit dem Journalisten Christoph Fasel geschrieben, der zuletzt an der Biografie "Samuel Koch – Zwei Leben" mitgearbeitet hat. Die Eltern von Mirco erzählen ihre Geschichte getrennt, zu Beginn der Abschnitte wird angegeben, wer von beiden gerade spricht. Darüber, wie ihnen der Glaube an Jesus Christus durch die dunkelsten Wochen ihres Lebens Kraft gegeben hat, sprechen sie ohne Scheu in der Öffentlichkeit: beim ZDF-Jahresrückblick "Menschen 2011", in der ARD-Talkshow "Beckmann" oder anlässlich der Buchveröffentlichung in der Tageszeitung "Die Welt": "Unser Trost ist Gott. Er half und hilft, wo wir aus eigener Kraft nicht mehr können." Davon berichten die beiden auch in Selbsthilfegruppen: "Viele Menschen, auch Eltern verstorbener Kinder sagen mir: ‚Dein Glaube, deine Kirche, die geben dir Kraft. Ich wünschte, ich könnte das auch so sehen’", sagte Sandra Schlitter gegenüber der "Welt", und ergänzte: "Aber es ist nicht mein Glaube und meine Gemeinde, die mich trösten, sondern der lebendige Gott."

Medien lauern der Familie auf

In den Wochen nach Mircos Verschwinden werden die Schlitters zusätzlich belastet – durch die Neugier der Medien. Sandra Schlitter erinnert sich: "Wir gingen nur noch ungern aus dem Haus, weil wir befürchten mussten, dass hinter der nächsten Ecke irgendein neugieriger Reporter mit Kamera stand." Mirco wird zu einer "relativen Person der Zeitgeschichte", wie es im Journalistenjargon heißt – die Familie habe sich mit heruntergelassenen Jalousien vor Fotografen schützen müssen. Die Schlitters verweisen bei Presseanfragen konsequent auf die Polizei – "danach fragten die allermeisten Presseleute dann wirklich nicht mehr nach. Das empfanden wir als wohltuend und fair".

Das menschliche Drama der Familie mündet im letzten Drittel des Buches in die kriminologisch faszinierende Schilderung der letzten Schritte zur Ergreifung des Täters – über seinen Wagen, einen Passat, als Firmenwagen der Deutschen Telekom mittlerweile nach Luxemburg verkauft. Die Spur führt zu Olaf H. – einem Vater von vier Kindern, der im benachbarten Ungerath wohnt. Er lässt sich widerstandslos festnehmen und wird später unterschiedliche Aussagen zum Tathergang machen. Vor Gericht wird festgehalten, dass Olaf H. Mirco aus Frust sexuell missbraucht und anschließend getötet hat, um nicht verraten zu werden. Dann kehrte er heim zu Frau und Kindern, ließ sich 145 Tage nichts anmerken.

"Was ich weiß, ist zumindest eines: Ich hasse diesen Mann, der da mit einem merkwürdig verzerrten Grinsen auf der Anklage- bank sitzt, nicht", schreibt Sandra Schlitter über ihre Begegnung mit Olaf H. vor Gericht. "Ich hasse ihn allein schon deshalb nicht, weil Hass nicht in Reinhards oder mein Leben gehört. Wer an einen Gott glaubt, der auch die schlimmsten Sünden verzeiht, und wer selbst erlebt hat, wie befreiend Vergebung ist, der möchte nicht an Hass und Bitterkeit festhalten. Und Reinhard und ich glauben an diesen Gott." Olaf H. habe mit seiner Tat seine eigene Familie zerstört – in einem Gedenkgottesdienst für Mirco wird sogar für den Mörder gebetet. Das Urteil am Ende des Prozesses: lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Ein bunt bemalter Sarg für Mirco

Geistlichen Beistand bekommt Familie Schlitter von Roman Siewert, dem Präses des Bundes freikirchlicher Pfingstgemeinden, dem ihre Ortsgemeinde angehört. Seine Predigt auf der Beerdigung ist als Brief formuliert, der im vorliegenden Buch in voller Länge abgedruckt ist. Er geht ein auf Mircos Begeisterung für die freie Natur, fürs Klettern und Traktor fahren. Mircos Freunde und Klassenkameraden haben den kleinen Sarg mit bunten Zeichnungen verziert.

Sandra und Reinhard Schlitter haben einen Weg gefunden, mit dem "Einbruch des Bösen" in ihr Leben, wie Reinhard es nennt, umzugehen. Sie gestalten ein Familienleben für ihre drei Kinder Alexander, Julia und Judith. Sie helfen anderen bei der Bewältigung ihres Schmerzes. Sie bekennen ihren Glauben, der rettet, befreit und hilft, zu vergeben.

Es ist ein Bekenntnis, das viele Menschen befremdet, aber auch tiefe Eindrücke hinterlässt. Nach Mircos Beerdigung haben Sandra und Reinhard Schlitter jedem der anwesenden Beamten der Sonderkommission ihre Anerkennung und ihren Dank ausgesprochen. "Und dann", schreibt Sandra Schlitter, "haben diese Menschen, die wirklich alles getan haben, um unseren Mirco zu finden, uns eine überwältigende Antwort gegeben: ‚Ihr habt uns mehr getröstet als wir euch!’". (pro)

Sandra und Reinhard Schlitter mit Christoph Fasel: "Mirco. Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen." adeo-Verlag, 192 Seiten, 17,99 Euro.

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