Wer verstehen will, warum die documenta 14 für manche Kritiker künstlerisch langweilig, inhaltlich einseitig und didaktisch ein Desaster ist, hätte am Montag auf dem Kasseler Straßenstrich sein sollen. Genauer gesagt nebenan im rappelvollen Club Unten in der ehemaligen Tofufabrik, wo der US-Künstler Terre Thaemlitz seine Performance „Deproduktion“ aufführte, die aus zwei Thesen bestand: Erstens sei es unmoralisch, Kinder zu bekommen, zweitens würden Familien Demokratie unmöglich machen.
Die documenta 14 hat damit das Gaga- und Empörungspotenzial ihrer Vorgängerausstellung erreicht, auf der die künstlerische Leiterin ein Wahlrecht für Erdbeeren forderte. Dabei ist Thaemlitz supersympathisch. Er ist Elektronikmusiker und ordnet sich keinem Geschlecht zu. Mal ist er ein Er, mal eine Sie. Der Wahl-Japaner sieht aus wie ein langhaariger John Lennon, dem Brüste gewachsen sind.
Die 80-minütige Performance besteht im Grunde aus zwei verfremdeten Pornofilmen, über die er romantische Ambient-Musik gelegt hat. Die Bilder hat er vervielfältigt. So sieht man masturbierende Frauen, Männer beim Oralsex und manchmal statt zwei Brüsten gleich sechs. Ein echter Gaga-Höhepunkt.
In den englischen Texten, die über den Bildschirm flimmern, erzählt Thaemlitz von ungewollten Schwangerschaften, Vergewaltigungen und missglückten Geschlechtsumwandlungen. Der zweite Teil der Performance ist ein Manifest, in dem er die Familie „als Ort der sexuellen Gewalt und Unterdrückung“ der Geschlechter definiert, ein „feudales Mikrokönigreich“.
Abtreibung für alle
Er zitiert seinen Künstlerkollegen Mark Fell, der feststellte, dass ein Fötus viel weniger leiden müsse als ein Mensch mit Bewusstsein. Darum sei es moralisch, dass jeder eine Abtreibung mache.
Später sagt Thaemlitz, dass manches ironisch gemeint sei. In jedem Fall ist es anstrengend. Gefühlt ist sein Text so lang wie das Gesamtwerk des Soziologen Niklas Luhmann – und auch ungefähr so verständlich. Die auf Postern abgedruckte deutsche Übersetzung ist vom Satzbau und von der Wortwahl eine einzige Vergewaltigung von Sprache. Vielleicht gehen auch deswegen viele der 80 Besucher vorzeitig.
Wie Ehe und Familie in der Zukunft aussehen könnten, kann man beim französischen Bestsellerautor Michel Houellebecq („Elementarteilchen“) nachlesen, bei Thaemlitz erfährt man davon nichts. Insofern passt er (oder sie) zu dieser documenta, die ständig nur zurückschaut statt nach vorn.
Wer dennoch etwas von diesem Abend mitnehmen will, landet zwangsläufig bei einem anderen Gender-Aktivisten. Chris Korda riet schon vor einem Vierteljahrhundert: „Rette den Planeten, töte dich selbst.“ Dann müsste man auch nicht mehr die Kunst dieser documenta ertragen. Aber ob das eine Lösung ist?
Terre Thaemlitz’ documenta-Arbeit „Lovebomb“ ist im Sepulkralmuseum zu sehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen. Wir danken für die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Von: Matthias Lohr, HNA