Konvertiten und Pfingstler in der Türkei am stärksten unter Druck

Martin Pühn ist im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verantwortlich für die deutschsprachigen evangelischen Gemeinden im Nahen und Mittleren Osten. Im Gespräch mit pro wirbt der Oberkirchenrat nach dem gescheiterten Putsch und wegen der fortschreitenden Islamisierung in der Türkei dafür, die Situation von Christen in dem Land differenziert zu betrachten.
Von PRO
Oberkirchenrat Martin Pühn wirbt dafür, die Situation von Christen in der Türkei differenziert zu bewerten

pro: Herr Pühn, wie bewerten Sie die aktuelle Lage für Christen in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan?

Martin Pühn: Zunächst einmal sind wir hier darauf angewiesen nachzufragen, wie die Christen die Situation vor Ort wirklich empfinden. Von unserer deutschen Gemeinde in Istanbul weiß ich, dass es nach dem Putschversuch zu keinerlei Vorkommnissen gekommen ist. Es hat aber in den deutschen Medien Meldungen über Übergriffe auf eine evangelische und eine katholische Kirche gegeben. Aus dem Kirchenamt der EKD in Hannover haben wir auch beim ökumenischen Patriarchat in Istanbul direkt nachgefragt. Dort hat man uns mitgeteilt, dass es keine Angriffe auf orthodoxe Kirchen gegeben hat. Derzeit richtet sich die Politik Erdogans vor allem gegen die Gülen-Bewegung. Wir haben es daher nicht mit einem christlich-muslimischen Konflikt zu tun. Bislang haben wir nach dem Putschversuch keine besorgniserregenden Rückmeldungen von Gemeinden aus der Türkei erhalten. Anders war es nach der Armenienresolution des Deutschen Bundestages. Die hat unmittelbar zu Reaktionen gegen deutsche Einrichtungen in Istanbul geführt. Unter anderem ist eine Gruppe von etwa 25 Personen vor der deutschen Gemeinde aufgezogen und hat dort nationalistische Parolen gerufen. Das sind Dinge, die vom Putsch unabhängig sind. Die Großwetterlage für Christen in der Türkei, das muss man sagen, ist generell in letzter Zeit durch eine Islamisierung schwieriger geworden. Das hat aber mit dem aktuellen Putsch nichts zu tun.

Woran machen Sie fest, dass es für Christen schwieriger geworden ist?

Man kann nicht allgemein von „den“ Christen sprechen. Es ist notwendig, nach den verschiedenen Regionen zu differenzieren und die Situation im Einzelfall beispielhaft zu beschreiben. Ich war im April in Alanya, wo wir eine ökumenische Gemeinde haben. Der evangelische Pfarrer hat in Alanya, sein katholischer Kollege in Antalya seinen Sitz. Weil es in der Region auch Bombenanschläge gegeben hat, wird die Gemeinde durch Polizei geschützt, wenn dort Veranstaltungen sind. Aber die Situation in der Stadt ist gegenüber der Gemeinde und ihren Mitgliedern völlig offen. Aus religiöser Sicht heraus gesehen sind das sehr gute Umstände und Zustände an dem Ort. Sowohl der Mufti als auch städtische Beamte haben freundschaftliche Bande mit der Gemeinde. Die Stadt unterhält und finanziert einen Friedhof für Ausländer, damit Christen dort nach ihrem Ritus bestattet werden können. Das ist eine entspannte Situation. Wenn man sich dagegen die Kurdenregion im Südosten der Türkei ansieht, wo traditionell syrisch-orthodoxe Christen leben, muss man sagen, dass diese unter dem neu aufflammenden Konflikt zwischen dem Staat und den Kurden sehr stark leiden. Das hat dazu geführt, dass die Christen dort zum Teil ihre angestammte Region verlassen. Dann muss man noch differenzieren zwischen den verschiedenen Denominationen. Es gibt solche christliche Kirchen und religiöse Minderheiten, die vom Staat offiziell anerkannt werden. Das sind beispielsweise die Armenier, aber auch die Griechen und die Juden. Es gibt dann auf der anderen Seite aber auch Kirchen, die nicht offiziell anerkannt sind. Dazu gehören die syrisch-orthodoxe Kirche, die katholische Kirche und die protestantischen Gemeinden. Ohne die staatliche Anerkennung fehlt ihnen die Rechtspersönlichkeit in der Türkei. Das geht zurück auf einen Vertrag von Lausanne 1923, wo den christlichen Minderheiten die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte zuerkannt wurden. Nur, dass dieser Vertrag nach derzeitiger türkischer Definition eben nur die Minderheit der Armenier, der Bulgaren, der Griechen und der Juden betrifft. Alle übrigen Vereinigungen sind keine Rechtspersönlichkeiten. Das macht sich dann bei alltäglichen Dingen bemerkbar, wie etwa einer Kontoeröffnung. Wenn man wirklich benennen will, welche christlichen Gruppen in besonderer Weise gefährdet sind, bedrängt und verfolgt werden, dann muss man an erster Stelle die Christen nennen, die vom Islam zum Christentum konvertiert sind. Und man muss die Mitglieder von protestantischen Freikirchen, etwa die Baptisten oder Pfingstgemeinden, nennen. Die sind vermutlich die Christen, die am stärksten unter Druck stehen.

Wird sich die Lage für Christen aus Ihrer Sicht weiter verschlechtern?

Das ist schwierig vorherzusagen. Es wird vor allem abhängig sein von der weiteren politischen Entwicklung und davon, wie weit die Islamisierung der AKP gehen wird. Im Moment gilt eine Notstandsgesetzgebung. Wie lange sie aufrecht erhalten bleibt, ist ungewiss. Es gab in den vergangenen Jahren aber durchaus auch positive Dinge, die man berücksichtigen muss. Etwa die Rückgabe von beschlagnahmten kirchlichen Immobilien, oder die Befreiung vom islamischen Schulunterricht für Christen. Solche Tendenzen darf man nicht verschweigen. Dem gegenüber steht aktuell die Tendenz der Islamisierung. Man muss nun beobachten, welche dieser beiden Tendenzen letztlich die Oberhand behält und sich durchsetzt. Ich selber würde vermuten, dass die Tendenz der Islamisierung weiter fortschreitet. Die Befreiung vom Religionsunterricht für Christen und auch die Garantie kirchlichen Besitzes können als objektive Messlatten dienen, um den Fortgang in den nächsten sechs bis zehn Monaten hier messbar zu überprüfen. Sollten diese Freiheiten wieder zurückgenommen werden, wären das sehr starke Indikatoren für eine Islamisierung. Das würde dann durchaus auch Befürchtungen wecken, dass Christen mit Repressalien rechnen müssten. Ein weiterer Faktor ist, dass es bislang keinen Ausbildungsort für nichtmuslimische Geistliche in der Türkei gibt. Das prominenteste Beispiel ist das orthodoxe Priesterseminar auf Chalki, der Insel vor Istanbul. Das wurde 1971 geschlossen. Das bedeutet, dass die orthodoxe Kirche derzeit keine Priester im eigenen Land ausbilden kann, obwohl der türkische Staat sie an sich als türkische Kirche ansieht. Die Wiedereröffnung des Priesterseminars ist seit Jahrzehnten in der Diskussion, einer Art Lackmustest für die Religionsfreiheit in dem Land.

Wie können Christen hierzulande ihre Brüder und Schwester in der Türkei unterstützen?

Wenn die Fragen im Raum steht: „Was können wir tun?“, höre ich im Nahen Osten sehr oft von den Geschwistern: „Das erste und beste, was ihr für uns tun könnt, ist, für uns zu beten.“ Die Fürbitte. Darüber hinaus können diejenigen, die Kontakte haben, diese nutzen und dort erfragen, wo Hilfe gebraucht wird.

Sind dabei Vorsichtsmaßnahmen zu beachten?

Ich stehe mit unserer Pfarrerin in Istanbul ganz normal in Kontakt. Man sollte einfach wissen und beachten, dass es für Christen zurzeit sehr schwierig ist, sich zur politischen Situation zu äußern, und sollte darauf verzichten, die Christen vor Ort dazu zu drängen, dies zu tun. Öffentliche Äußerungen von Christen, die dann medial verbreitet werden, sind im Moment schwierig. Entweder werden sie als zu regierungsnah, oder sie werden als zu regierungskritisch eingestuft. Beides ist unter Umständen wenig dienlich.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Norbert Schäfer. (pro)

Hintergrund

Die Evangelische Kirche in Deutschland unterhält derzeit zwei Auslandsgemeinden in der Türkei. Einmal den Ökumenischen St.-Nikolaus-Kirchenverein in den Touristenhochburgen Antalya und Alanya, und die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei in Istanbul, der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes. Die beiden Gemeinden werden im EKD-Kirchenamt Hannover seit etwa dreieinhalb Jahren von Oberkirchenrat Martin Pühn betreut. Die Gemeinde in Istanbul ist eine traditionelle Auslandsgemeinde der EKD, die bereits 1853 gegründet worden ist. Im Moment sind dort rund 300 Mitglieder eingeschrieben. Die Gemeinde ist offen für Besucher und wird auch häufig von deutschen Reisegruppen, aber auch von politischen Repräsentanten, besucht. Anders als in muslimisch geprägten Ländern üblich, feiert die Gemeinde sonntags ihre Gottesdienste. Üblicherweise ist in muslimisch geprägten Ländern der Freitag der wöchentliche Feiertag. Die Gemeinde unterhält in der europäischen Altstadt mit anderen christlichen Kirchen eine Anlaufstelle für Flüchtlinge. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/kommentar/detailansicht/aktuell/tuerkei-pressefreiheit-nicht-mit-fuessen-treten-96996/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/tuerkei-schliesst-dutzende-zeitungen-und-sender-96995/
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