Laut "Welt"-Autor Alfred Hackensberger werde sich in den nächsten Monaten zeigen, ob "Islamisten moderne Antworten auf die Bedürfnisse der Menschen finden" könnten! Das tunesische Parlament wählt bald einen neuen Präsidenten, der dann die Aufgabe hat, eine Regierung zu bilden. Bei der Wahl in Marokko am vergangenen Wochenende siegten die Islamisten. In Ägypten haben die Wahlhandlungen begonnen. Dort rechnet die Mehrheit der Beobachter mit einem deutlichen Sieg der konservativ-islamischen Muslimbruderschaft.
Pragmatismus statt ideologischem Ballast
In Marokko erhoffe sich ein Großteil der Wähler durch ihr Votum Transparenz und die Bekämpfung der weit verbreiteten Korruption. Viele wünschten sich den wirtschaftlichen Aufschwung, Arbeitsplätze und eine auf traditionellen islamischen Werten beruhende Gesellschaft. "Mit ähnlichen Hoffnungen im Herzen werden in Ägypten Millionen von Wählern ihre Stimme für Kandidaten der Muslimbruderschaft geben", schreibt der "Welt"-Autor.
Im Vergleich zu ihren islamistischen Pendants in Tunesien oder Marokko gelten die ägyptischen Muslimbrüder als fundamentalistisch. Damit könnten sie, so Hackensberger, bei den jetzigen Wahlen noch Gewinne erzielen. Er ergänzt: "Um jedoch auf Dauer in einer Demokratie erfolgreich zu sein, wird sie ideologischen Ballast zugunsten von Pragmatismus über Bord werfen müssen." Deswegen hätten viele andere Parteien in den arabischen Ländern längst einen Wandlungsprozess eingeleitet und verzichteten auf dumpfe Rhetorik.
Hackensberger fragt kritisch, ob der "arabische Frühling" wirklich das Ende eines Zeitalters der autokratischen Herrscher sei, die die Menschenrechte mit Füßen getreten haben. Mittlerweile sei sogar von einem "arabischen Herbst" die Rede, in dem sich die Errungenschaften der Revolutionen in ihr Gegenteil verkehren könnten? Bleiben die Politiker nur so lange Demokraten, solange sie durch das politische System gezwungen sind, Kompromisse einzugehen? Wie sieht es bei absoluten Mehrheiten mit Toleranz und dem Pragmatismus aus?
Chance und Gefahr zugleich
Wie sich die Revolutionen in der arabischen Welt auf die Religionsfreiheit konkret auswirken werden, ist aus Sicht von Berthold Pelster von "Kirche in Not" nicht ganz klar. Neben den Chancen, sieht er auch Verunsicherungen und Gefahren. Sogar Papst Benedikt XVI. habe in seiner Neujahrsansprache den weltweiten Schutz der Religionsfreiheit als eine Herausforderung "von dramatischer Dringlichkeit" bezeichnet. Wie dringlich diese Aufgabe ist, zeigten eine Reihe von schweren Anschlägen auf christliche Kirchen und Gläubige im vergangenen Jahr, vor allem in Ägypten.
Im Hinblick auf die anstehenden Wahlen befürchtet Pelster, dass dort Parteien an die Macht kommen könnten, die dem politischen Islam zugerechnet werden muüssen. Deren Ziel sei es, eine "islamische Ordnung" zu errichten, in dem das islamische Recht, die Scharia, in ihrer Ganzheit zur Anwendung komme. Christen würden dann nur eingeschränkte Bürgerrechte eingeräumt. Auf der anderen Seite hätten die Demonstrationen auch eine große Geschlossenheit zwischen Muslimen und Christen gezeigt, um Themen der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs durchzusetzen.
In Syrien habe die aktuelle Konstellation dazu geführt, dass islamistische Kräfte kleingehalten wurden und Christen ihre Religion vergleichsweise frei praktizieren konnten. "Sollte es in Syrien zu freien Wahlen kommen, ist es wahrscheinlich, dass bislang eher unterdruückte Bevölkerungsmehrheiten wie die Sunniten an die Macht kommen. Dadurch würde das politische System auch in Syrien eine deutlich stärkere islamische Prägung erhalten, mit möglichen negativen Folgen für die christliche Minderheit", vermutet Pelster.
Aus Pelsters Sicht hat in den letzten Jahrzehnten der Einfluss islamistischer Bewegungen weltweit gravierend zugenommen, bis in den politischen Bereich hinein. In vielen dieser Länder sei eine deutliche Rückbesinnung auf die islamische Religion und islamische Werte zu beobachten. Das fuhre häufig zu einer stärkeren Abgrenzung von den Christen, bis hin zur Benachteiligung und deren Unterdrückung. Als Beispiel nennt er Pakistan, wo die Entehrung des Korans mit lebenslanger Haft, die Beleidigung des Propheten Mohammed sogar mit der Todesstrafe geahndet werde.
Zeichen der Hoffnung
Pelster richtet seinen Fokus auch auf China, wo der Atheismus nach wie vor zur Staatsideologie zähle und die Religionsgemeinschaften bis heute einer strengen staatlichen Kontrolle unterlägen. Insgesamt fahre die chinesische Regierung einen sehr restriktiven und konfrontativen Kurs gegen Christen. Auch in Afrika nehme der religiöse Fanatismus zu. Dies zeige das Beispiel Nigeria, wo alle westlichen Einflüsse ausgeschaltet und die Errichtung einer islamischen Gesellschaft nach der "wahren Lehre" des Islam angestrebt werden sollen.
Ein Zeichen der Hoffnung, sagt Pelster, sei die Tatsache, dass sich mehr Politiker in den westlichen Ländern, um das Thema Religionsfreiheit kümmerten: "Die Sensibilität ist deutlich geschärft." Ein neues Gesetz in Ägypten erlaube es zudem, dass in Zukunft bei Genehmigungsverfahren für den Bau von Kirchengebäuden muslimische und christliche Gemeinden gleich behandelt werden. Zudem gebe es ein Dekret der türkischen Regierung, wonach der Staat nicht-muslimischen Stiftungen Hunderte von staatlich enteigneten Immobilien zurückgebe oder Entschädigungszahlungen leiste.
Laut dem Islamwissenschaftler Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen lassen sich drei verschiedene Strömungen ausmachen: die von der totalen Ablehnung der Demokratie als einer verderblichen Erfindung des Westens über die Nutzung demokratischer Rechte und Freiheiten zur schrittweisen Islamisierung der Gesellschaft bis hin zur Forderung nach einer klaren Trennung von Staat und Religion reichen. Vertreter dieser Forderung leben allerdings bis heute in vielen islamischen Ländern gefährlich und haben bisher an den großen theologischen Institutionen keinerlei Einfluss.
Für eine Demokratisierung wäre es nötig, dass die islamische Theologie "das Ideal eines islamischen Staates als Garant der Religion aufgeben und sich für eine freie Zivilgesellschaft und volle Religionsfreiheit aussprechen würde". Dass dies nicht in Sicht sei, zeige die Haltung des bereits verstorbenen Vordenkers der Muslimbrüder in Ägypten, Sayyid Qutb. Dieser habe jedes System abgelehnt, das "auf dem Konzept der Souveränität des Menschen" basiere. In den islamisch geprägten Ländern habe es in den letzten Jahren lediglich vereinzelt Reformer, wie den ägyptischen Autor Farag Foda, gegeben. Er habe in einem Buch der islamistischen These widersprochen, dass die Anwendung der Scharia eine "sofortige Gesundung der Gesellschaft" zur Folge haben werde. Aufgrund dieser These sei Foda von radikalen Islamisten ermordet worden. (pro)