Wir haben es gewusst!

Der Unterschied zwischen Wissen und Erkenntnis ist zuweilen dramatisch: Wir Menschen wissen von vielen Missständen, aber sind oft zu bequem oder zu unentschlossen, um etwas dagegen zu tun. Bis Katastrophen das ganze Ungemach offenbaren. Das wusste schon Paulus. Eine Kolumne von Jürgen Mette
Von PRO
Viele Jahre leitete der Theologe Jürgen Mette die Stiftung Marburger Medien. Sein Buch „Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson“ schaffte es 2013 auf die Spiegel-Bestsellerliste. Für pro schreibt er eine regelmäßige Kolumne.

„Habt ihr denn das nicht kommen sehen…?“ So habe ich oft die älteren Herrschaften gefragt, die das Hitlerdeutschland bis zum bitteren Ende miterlebt hatten. Als dieser Schurke anfing, „Heil Hitler“ als Begrüßungsformel einzuführen, ist vielen eifrigen Bibellesern offensichtlich nicht das Predigt-Zitat des Apostel Petrus „Es ist keinem anderen Heil!“ in den Sinn gekommen. Und als am Abend des 20. Juli 1944 die Nachricht vom gescheiterten Attentat auf Hitler bekannt wurde, hat die Mehrheit der Christen in Deutschland vor Gott die Knie gebeugt und für das Überleben des grausamen Despoten gedankt, der den Tod von 60 Millionen Menschen zu verantworten hat. Und als der junge Theologe Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 in Flossenbürg auf persönliche Anweisung von Adolf Hitler hingerichtet wurde, wurde das kaum wahrgenommen. Sie haben es gewusst!

Was fällt uns in diesen Tagen zu Putins kindlicher Freude an pompösen Militärparaden ein? Vielleicht würde er selber mal gern richtig Krieg spielen. Zigtausende Tonnen von Kriegsgerät und 14.000 wie ferngesteuerte Soldaten, die im Stechschritt am Podest des mächtigen Kriegsherrn vorbei balzen, währenddessen im Polarkreis das Bersten eines 20.000-Liter-Öltanks das empfindliche Ökosystem der Arktis für die kommenden Generationen schwer belastet. Ursache: Durch die Erderwärmung bedingte Auflösung des Permafrostes lässt Straßen, Schienen und Industrieanlagen im Morast versinken. Sie haben es gewusst. Aber sie haben nichts gelernt.

Wie abfällig wurden die Ökos zu Beginn des dritten Jahrtausends verhöhnt, die auf das Waldsterben aufmerksam machten. Der Wald sah doch nicht krank aus. Jetzt aber, nach den Hitzeperioden der letzten beiden Jahre, wird das Baumsterben für jeden sichtbar. Allein die Wälder um Frankfurt sind zu 97 Prozent krank. Wir haben es gewusst.

Und wenn der amerikanische Präsident das von vielen erfahrenen Diplomaten entwickelte Vertrauen unter den Großmächten niedertrampelt und auf raubeinige Weise mit anderen Staatschefs umgeht, Berater feuert, und dem jedes Mittel recht ist, um seine Präsidentschaft für die nächste Runde zu sichern; der vortrefflich die Themen zu flöten weiß, die vielen frommen Wählern gefallen: Sie haben es gewusst, aber nichts gelernt.

Als vor einem Jahr die im nordhessischen Berndorf ansässige Wurst-Fabrik Wilke wegen desaströser Hygienezustände geschlossen werden musste, hatten die Aufsichtsbehörden bundesweit Zeit, die fleischverarbeitenden Großbetriebe ins Visier zu nehmen. Jetzt erst im Zuge der Corona-Pandemie zeigt sich, dass alle informiert waren, aber nichts passiert ist, denn dann wären die Arbeitsbedingungen in den Großschlachtereien und ihre besonderen Anfälligkeit für das Corona-Virus bekannt gewesen. Sie haben es gewusst, aber nichts unternommen. Corona deckt auf. Meine Freude an Fleischgerichten verzehrt sich – und das mitten in der Grillsaison.

Da fällt mir ein Bibelvers ein, den Paulus in seinem zweiten Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus geschrieben hat: „Die Menschen lernen ständig und kommen doch nicht zur Erkenntnis der Wahrheit.“ (Kapitel 3,7). Wir haben kein Bildungsproblem, wir haben ein Erkenntnisproblem.

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