Rücktritt – die gute alte Fahrradbremse

In den vergangenen Tagen haben gleich mehrere öffentliche Personen angekündigt, auf ihren Posten zu verzichten. Mancher ist noch nicht einmal richtig in die Pedale getreten, da trat er schon zurück. Aber besser Rücktritt als ein blockiertes Vorderrad. Eine Kolumne von Jürgen Mette
Von PRO
Der Theologe Jürgen Mette leitete viele Jahre die Stiftung Marburger Medien. 2013 veröffentlichte er das Buch „Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson“, das es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte. Für pro schreibt er eine regelmäßige Kolumne.

Was haben Annegret Kramp-Karrenbauer alias AKK, Reinhard Marx, Jürgen Klinsmann und Thomas Kemmerich gemeinsam? Sie sind mitten im, kurz vor oder nach dem Rücktritt. Die eine war von textiler Seite schlicht unterwegs, fleißig, aber schließlich „ohnmächtig“; der andere war mächtig, liebte prächtige Gewänder, aber hat mitten im Reformstau kapituliert, der nächste will sich lieber im Aufsichtsrat ausruhen, statt eine Horde Männer in kurzen Hosen zu befehligen; und der letzte ist erfolgreicher Friseur-Unternehmer mit 1. Staatsexamen in Rechtwissenschaften und versucht sich in der Geschäftsführung des Freistaats Thüringen, er ist gekommen, um zu gehen.

Rücktritt, so nannte man früher das Bremssystem einer Hinterradnabe des Fahrrads. Die Nabe erfüllt zwei Funktionen: Das Fahrrad kann vorwärts rollen, ohne dass die Pedale vorwärts angetrieben werden. Das ist die Freilauffunktion der Nabe. Um das zu erreichen, gibt es verschiedene Systeme. Die zweite Funktion: Sie funktioniert als Bremse, die betätigt wird, indem man die Pedale rückwärts tritt.

Gebremster Aufprall

Die Rücktrittbremse wurde um die Jahrhundertwende erfunden und ist seitdem weiterhin in manchen Gegenden bis heute beliebt. Der Rücktritt ist eine Bremse, die den Biker auf schneller Tour sicher retardiert und den Aufprall moderiert, was so viel heißt wie besänftigt. Die modernen Felgen- oder Scheibenbremsen wirken auch vorne und lassen Biker bei Vollbremsung über den Lenker absteigen und auf die „Fresse“ fliegen. Apropos: Andrea Nahles wollte in ihrer Amtszeit der CDU eins auf die Fresse (Hochdeutsch: Vorderes Gebiss) geben. Dazu ist sie nicht mehr gekommen, weil sie ihre Fahrt an der Parteispitze der SPD ebenfalls vorfristig durch Rücktritt stoppte.

AKK hat ihre Sache als Vorsitzende der größten Partei gut gemacht. Aber sie hätte früher auf Klärung der Fronten zwischen CDU und AfD achten müssen. Was für ein skurriles Fiasko in Erfurt: Ein Vertreter der Kleinstpartei FDP wird von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Björn Höcke gratuliert mit scheinheiligem und scheinbar unterwürfigem Habitus dem frisch gewählten Regierungschef mit extrem kurzer Verweildauer im Amt. In diesem Augenblick war mir klar, dass die CDU ohne Bremsen frontal vor die Wand fährt. Die Kanzlerin stammelt aus der Ferne etwas von „unverzeihlich“. AKK hat ihre politische Ohnmacht erkannt und die richtigen Schlüsse gezogen.

Reinhard Kardinal Marx fehlt es nicht an Macht, und doch wirkt sein Rücktritt vom Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz wie eine Kapitulation. Die Katholische Kirche sucht den Weg aus der Glaubwürdigkeitskrise: Zwei Jahre lang diskutieren Bischöfe und Laien über Macht, Missbrauch, Sexualmoral und Frauenämter. Am Ende sollen Reformen stehen. Nun steht Papst Franziskus selbst auf der Bremse.

Es ist Rücktrittszeit. Den einen bereitet das Freude, den anderen Pein.

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