Warum wir nicht zu schnell vergeben können

In den USA wurde eine weiße Frau zu zehn Jahren Haft wegen der Ermordung des Schwarzen Botham Jean verurteilt. Dessen Familie wie auch die Richterin demonstrierten noch im Gerichtssaal Vergebung. Bewundernswert, sagen die einen, vorschnell, die anderen.
Von PRO
Blick in einen historischen Gerichtssaal in den Vereinigten Staaten

„Wenn du deine Schmerzen verschweigst, werden sie dich töten und sagen, dass du es genossen hast.“ Zora Neale Hurston

Am 2. Oktober 2019 sah die Welt schwarze Menschen, einen Bruder und einen Vater eines Mordopfers, eine Richterin und einen Gerichtsdiener. Sie gewährten der gerade verurteilten Mörderin Vergebung. Das Mordopfer, Botham Jean, war ein 26-jähriger Afroamerikaner und ein angesehener Bürger aus Dallas, Texas. Er wurde am 6. September 2018 in seiner Wohnung von Amber Guyger, einer Polizistin, die zum Tatzeitpunkt nicht im Dienst war, getötet. Guyger wurde lediglich zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Das Problem war nicht die Vergebung! In einem christlichen Staat erwartet man Vergebung. Wenn die Opfer jedoch Schwarze sind, wird Vergebung sofort erwartet; und diese Vergebung bekommt lautstarken Applaus. Diese Zurschaustellung der Vergebung war unmissverständlich im Nachgang von Bothoms Fall: Eine Gerichtsdienerin glättete unmittelbar nach dem Urteil eine blonde Strähne von Guygers Haar. Bevor Guyger das Urteil verarbeiten konnte, bot Bothams 18-jähriger Bruder seine Vergebung und Liebe an. Später kam die amtierende Richterin mit ihrer eigenen Bibel zurück in den Gerichtssaal, um Guyger zu ermutigen. All dies war aus mehreren Gründen schlimm anzusehen.

„Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“

Erstens war ich immer der Ansicht, dass Vergebung nach der Buße kommt. Guyger hat keine Reue gezeigt für diesen sinnlosen Mord an einem Mann, der in seiner Wohnung saß und nichts weiter tat als ein Eis zu essen. Stattdessen hat sie Entschuldigungen geliefert, sie habe unter Schlafentzug gelitten, sie sei verwirrt gewesen, sie sei ein Opfer von Kindesmissbrauch. Nichts davon ist eine Entschuldigung dafür, dass sie einen unbewaffneten Mann erschossen und danach nicht einmal den Versuch unternommen hat, sein Leben zu retten. In diesem Fall hat die Vergebung den Schmerz der Familie zum Schweigen gebracht. Als Bothams Vater gelächelt und verkündet hat, dass er eines Tages Guygers Freund sein wolle, wollte er dadurch offensichtlich seinen Schmerz ersticken.

Diese Handlungen waren denen der Überlebenden und Angehörigen des Charleston Church Massakers sehr ähnlich. Nur wenige Tage nachdem Dylan Roof an einem Mittwochabend mit der Absicht einen Rassenkrieg anzuzetteln in eine Bibelstunde gekommen war, haben viele Angehörige wiederholt: „Ich vergebe dir.“ Das veranschaulichte, was die Schriftstellerin Zora Neale Hurston meint, als sie schrieb: „Wenn du deine Schmerzen verschweigst, werden sie dich töten und sagen, dass du es genossen hast.“ Die Leichname der Opfer der Kirchenmorde lagen noch in der Leichenhalle, aber schon war die Vergebung verfügbar für Roof, der seine Taten nicht bereute.

Ich dachte, Jesus sagte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Roof wusste sehr genau, was er tat. Warum sollten wir nicht warten, bis er Buße tut, bevor wir ihm Vergebung zuteil werden lassen? Schwarze Vergebung weißer Aggression, insbesondere von offensichtlichem Rassismus, verleugnet den Schmerz und lässt so die Aggression als etwas rüberkommen, was in Ordnung, im Extremfall sogar angenehm, ist. Während die schwarze Bevölkerung einen riesengroßen Aufwand betreiben muss, um einfach nur frei existieren zu können, müssen Weiße nichts für die Vergebung tun.

Weiße von deren Verantwortung und Fehlverhalten entbinden

Zweitens ist dies der erste Gerichtsprozess, der einen mutmaßlich rassistisch motivierten Mordprozess verhandelt, bei dem der Gerichtsdiener, die Richterin und etliche Geschworene afroamerikanischer Abstammungen sind. Daher scheint die übereilte Vergebung fast schon inszeniert. Die Handlungen der einzelnen Personen scheinen ein Schauspiel der Vergebung zu sein. Sie tun, was die meisten von schwarzen Opfern erwarten: die Weißen von ihrer Verantwortung und ihrem Fehlverhalten entbinden. In gewisser Weise ist die Vergebung immer noch ein subtiler Weg als Schwarzer in Amerika zu überleben und so weniger bedrohlich zu wirken. Ein Gerichtssaal, der fast nur aus Schwarzen bestand, konnte deswegen trotzdem nicht als Bedrohung für die weiße Vorherrschaft gesehen werden.

Wenn es sich um ein schwarzes Opfer handelt, werden die Überlebenden in der Regel sofort gefragt, ob sie dem Täter vergeben. Es wäre leichter und schneller die Namen der Schwarzen zu nennen, die keine vorschnelle Vergebung anbieten, als diejenigen aufzuzählen, die es getan haben. Als beispielsweise Eric Garner aus New York von einem NYPD-Polizisten mit einem illegalen Würgegriff zu Tode stranguliert wurde, wurde seine Witwe gefragt: „Kann die Familie seine Beileidsbekundung annehmen?“ Die Witwe, Esaw Snipes, antwortete mit Nachdruck: „Auf keinen Fall! Die Zeit für Reue war, als mein Mann um Luft gerungen hat!”

Den Vater um Vergebung bitten

Die Botschaft ist, dass es in Amerika keinen Platz für schwarze Trauer gibt, insbesondere, wenn man die systematischen und institutionellen Missstände Amerikas beklagt. Vergebung und Langmut ist der Preis, der von Schwarzen erwartet wird zu zahlen, dafür, dass sie einen Platz am Tisch bekommen. Aber erinnern wir uns doch daran, dass Jesus selbst das Vergeben nicht sofort erledigt, sondern weitergegeben hat. Diesen Teil hat er dem Vater im Himmel überlassen. Wenn es sich also um meinen ermordeten Bruder oder einen Angehörigen gehandelt hätte, muss ich sagen, dass ich keine schnelle Vergebung ertragen könnte. Ich würde meinen Vater bitten, dies zu tun, während ich mich durch alle Stadien der Trauer arbeiten würden – einschließlich des Gedankens ‚Auge um Auge’.

Tracey Gholston hat an der University of Alabama in Tuscaloosa promoviert. Als Assistant Professor of English unterrichtet sie an verschiedenen Universitäten und Colleges, aktuell an der Alabama A&M University.

Von: Tracey Gholston

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