Ein Tag, den man nie vergisst

So hat Jürgen Mette den Tag erlebt, an dem die Mauer in Deutschland fiel. Und heute? Was ist von der einstigen Euphorie geblieben? Eine Kolumne von Jürgen Mette
Von Jürgen Mette
Der Theologe Jürgen Mette leitete viele Jahre die Stiftung Marburger Medien. 2013 veröffentlichte er das Buch „Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson“, das es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte.

Es gibt Ereignisse, die man nie vergisst. Dieses zum Beispiel. Ich lebte 1989 mit meiner Frau und unseren drei Söhnen im Norden Chicagos, fünf Fahrminuten vom Lake Michigan entfernt. Ich war wie an jedem Tag nach der Uni nach Hause gekommen. Kurz vor dem Essen klingelte das Telefon. Der Anrufer stellte sich nicht vor, sondern frohlockte sichtlich entzückt durch das Telefon: „Jürgen, stell das Fernsehen an. Soeben fällt die Mauer in Berlin!“ Und dann saßen wir vor dem Kasten und sahen die Bilder von wankenden Mauerteilen, vor Freude weinenden Ostberlinern, johlenden Menschenmassen am Check-Point Charly und immer wieder Günter Schabowski in der DDR-Volkskammer mit dem legendären „sofort, unverzüglich“. Wir konnten es nicht fassen. Deutschland im Freudentaumel einer Vereinigung, an die kaum noch einer geglaubt hatte.

Ich kenne nur einen, der schon immer unerschütterlich an die Wiedervereinigung des getrennten Deutschlands geglaubt hat. Es war derselbe Mann, der uns damals angerufen hatte: Mein alter Weggenosse Wolfgang Baake. Wir kennen uns seit 50 Jahren. Gegen alle politische Vernunft hat er als Patriot und Wahlberliner keine Gelegenheit ausgelassen, sich zu einem vereinten Deutschland zu bekennen.

Unvergessen auch der nächste Tag an der Uni. Meine Kommilitonen fielen mir reihenweise um den Hals und freuten sich mit mir und faselten was von Erweckung und Missionsland Deutschland. Koreanische Theologiestudenten fühlten sich berufen, den Kirchen im Osten Deutschlands auf die Beine zu helfen. Professoren sprachen mich in der Mensa an und beglückwünschten mich. Der Jubel war schnell verflogen, das Sendungsbewusstsein des Westens auch.

Wiedervereinigung? Da geht noch was!

30 Jahre später fragt mich mein ehrenamtlicher Fahrer, der gerade aus der Katholischen Kirche ausgetreten ist, warum uns unsere Vortragsreisen so selten in den Osten führen würden. „Gibt es da keine Christen?“, will er wissen. „Doch, schon“, eiere ich rum, wir waren ja schon oft „drüben“, und dass die Wiedervereinigung mit den Friedensgebeten in den Kirchen begonnen habe. Und dass nach einem Linksrutsch jetzt der Rechtsruck ausgebrochen sei. Das ist alles schwer vermittelbar.

30 Jahre später brettern wir staufrei und komfortabel über die neue A4 Richtung Dresden. Und da fällt mir jedesmal auf, dass der Bypass um Eisenach herum die freie Sicht auf die Wartburg geklaut hat. Der Osten mäht akkurat die blühenden Landschaften, konsumiert reichlich, aber die Orte des Glaubens, einsturzgefährdete Zeugen einstigen geistlichen Lebens, versinken im Nirgendwo.

Tag der deutschen Einheit. Tag? Ja! Deutsch? Ja, sehr! Einheit? Na ja! Da ist noch viel Platz nach oben. Ganz oben.

Von: Jürgen Mette

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