Bürgerkrieg in Sachsen – und die Politik verweigert sich

Wer in Deutschland auf der Straße unterwegs ist, muss sich sicher fühlen können. Das gilt für Chemnitzer. Aber auch für Migranten und Journalisten. Unsere Autorin fühlt sich an unangenehme Begegnungen in Dresden erinnert. Ein Kommentar von Anna Lutz
Von Anna Lutz
Was ist los in Chemnitz? Seit Sonntag kämpfen dort Rechte gegen Linke und Hooligans gegen Migranten.

Am Wochenende ist auf einem Stadtfest in Chemnitz ein 35-Jähriger Deutscher durch Messerstiche getötet worden. Tatverdächtig sind ein Syrer und ein Iraker. Seitdem demonstrieren Tausende in der Stadt entweder gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung oder gegen Rechts. Videos im Internet zeigen, wie Hunderte gegen Ausländer hetzen, sie als „elendes Viehzeug“ bezeichnen und sogar jagen. „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer“-Rufe sind dokumentiert. Seit das öffentlich wurde, frage ich mich: Wie kann es so weit kommen, dass in Chemnitz bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen? Meine Antwort besteht aus drei Teilen.

Angst, Zögern, Einseitigkeit

Erstens: Jemand ist umgekommen, die Umstände sind noch nicht geklärt, alles deutet auf die Tat von Migranten hin. Dass das Angst und Wut produziert, ist eigentlich selbstverständlich. Dass es nicht zu einer Jagd auf alle Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund führen darf, aber ebenfalls. Rechte Gruppen haben zu Protesten aufgerufen und Gesinnungsgenossen aus ganz Deutschland mobilisiert. Sie missbrauchen den Tod eines Chemnitzers für ihre Zwecke. Doch neben den Rechtsextremen marschieren auch viele ganz normale Chemnitzer. Gesinnung kann also nicht der einzige Grund dafür sein, dass die Lage außer Kontrolle geraten ist.

Zweitens: Politische Verantwortungsträger wie Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) haben viel zu zögerlich und zu spät auf die Ausschreitungen reagiert. Von Kretschmer hätte man erwarten dürfen, dass er die Lage vor Ort in Augenschein nimmt, dass er an alle Demonstranten appelliert und auch, dass er einen kurzfristigen Aktionsplan darlegen kann, der Gewalttaten wie den mutmaßlichen Mord am Wochenende künftig verhindert oder mindestens erschwert. Von einem deutschen Innenminister muss mindestens ein Wort der Klärung und ein Appell für den Frieden zwischen allen Parteien kommen – und zwar umgehend. Das hätte Sicherheit vermitteln können und hoffentlich den ein oder anderen Demonstranten besänftigt. Stattdessen schickte die Bundesregierung Außenminister Heiko Maas (SPD) vor, der sich einseitig gegen Rechtsextremismus aussprach. Auch das ist wichtig, aber in der jetzigen Situation vielleicht nicht das beste Mittel, um alle Seiten zu beruhigen. Zu den politischen Verfehlungen zählt auch, dass die Polizei vor Ort nach wie vor überfordert ist. Immerhin hat Seehofer nun Hilfe vom Bund zugesagt. Aber auch das kam zu spät.

Drittens: Auch die Medien betrachten die Lage zu einseitig. Nichts darf Selbstjustiz oder gar Pogrome rechtfertigen, aber nach den Gründen zu forschen, ist notwendig. Dieser Tage lesen wir zahlreiche Kommentare, die die Gewalt verurteilen, aber wenige, die die Tat, aus der die Demonstrationen entstanden, thematisiert. Und noch seltener begegnen uns Meinungsstücke, die fragen, warum Tausende plötzlich die Rechtsstaatlichkeit in Frage stellen und selbst auf die Straße gehen, um für vermeintliche Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das stärkt nicht das Vertrauen in die Medien und es sorgt ebenfalls nicht für eine Entspannung der Lage. Denn die, die in Chemnitz demonstrieren, sind nicht nur Rechtsradikale und Hooligans. Es sind auch viele ganz normale Anwohner, die sich fragen, ob sie auch bei einem Stadtfest von Ausländern erstochen werden könnten. Es ist Aufgabe der Politik, aber auch der Medien, diese Ängste ernst zu nehmen, zu thematisieren und, wenn möglich, zu entschärfen. Für Aufklärung zu sorgen also. Stattdessen verlieren sich viele in moralischen Appellen, die, mit Verlaub, gerade ausschließlich die linke Seite bedienen und die Lage eher ver- als entschärfen.

So möchte ich nicht leben

Das alles, zusammen mit einer seit Monaten währenden Unzufriedenheit über die derzeitige Integrations- und Flüchtlingspolitik hat in Chemnitz dazu geführt, dass für manche die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft gesetzt ist. Eine teils gefühlte, teils reale Tatenlosigkeit der Politik im Land und im Bund hat dafür gesorgt, dass Menschen es nun für legitim halten, andere aufgrund ihres Äußeren durch die Straßen zu jagen oder ihnen Schläge anzudrohen, nur weil sie Kameraequipment dabei haben. Migranten und Journalisten sind in diesem Land nicht mehr sicher. Chemnitz ist nur ein Beispiel dafür.

Ich selbst habe als Journalistin erlebt, wie zum Beispiel Pegida-Demonstranten versuchen, Berichterstatter einzuschüchtern, sobald sie als solche erkennbar sind. In Dresden sind mir bereits Schläge angedroht worden, eine Gruppe versuchte, mich zu bespucken. Bei aller zulässigen Kritik an den Medien: Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem ich mich als Reporterin bei öffentlichen Demonstrationen nicht sicher fühlen kann. Und auch nicht in einem Land, in dem sich meine dunkelhäutigen Freunde nicht sicher fühlen können. Wo Unrecht geschieht, muss gehandelt werden. Da müssen politische Programme her und da müssen, wenn nötig, auch strengere Regeln zur Abschiebung geltend gemacht werden. Die Angst der Bürger muss ernst genommen werden – von der Politik und der Presse. Aber es hat noch nie funktioniert, die Sicherheit zu verteidigen, indem die demokratische Rechtsstaatlichkeit außer Kraft gesetzt wurde. Das müssen die Chemnitzer verstehen.

Von: Anna Lutz

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