Kinder in die Krippe? Vom Wunschdenken zur Wirklichkeit

Ursula von der Leyen schafft es wie keine andere Familienministerin, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in die öffentliche Diskussion zu bringen. Mit ihrer Forderung nach dem Ausbau der Kinderkrippen für eine stärkere Betreuung für unter Dreijährige fordert sie nicht nur die eigenen Parteikollegen heraus, sich der Wirklichkeit in deutschen Haushalten zu stellen.
Von PRO

Von Ellen Nieswiodek-Martin

Bis spätestens 2013 will von der Leyen 500.000 zusätzliche Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren schaffen – in Krippen und durch Tagesmütter. Sollte dieses Vorhaben gelingen, hätten in fünf Jahren 35 Prozent aller Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsangebot – und deren Mütter dadurch die Möglichkeit, berufstätig zu sein. Während die Kommunen noch prüfen, wie sie die Kosten aufbringen könne, die die Bundesfamilienministerin auf jährlich rund drei Milliarden Euro schätzt, streiten sich Politiker über Familienbilder und Lebensmodelle von Männern und Frauen. Manch einer scheint sogar sein eigenes Lebensmodell und die Wahlmöglichkeiten, wie seine Kinderschar künftig betreut wird, in Gefahr zu sehen.

Dabei soll der Ausbau des Betreuungsangebotes für Kleinkinder niemandem die persönliche Entscheidung nehmen, aber denen eine Wahl ermöglichen, die sich weder Kinderfrau noch Au-Pair-Mädchen leisten können. Christian Geyer bringt es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auf den Punkt: „Wo es keine Krippenplätze gibt, da gibt es keine Wahl. Nicht umgekehrt.“

Steigende Zahlen bei Kinderarmut und allein erziehenden Eltern

In der öffentlichen Diskussion gehen überraschend viele Politiker immer noch vom Bild der intakten Familie aus – und blenden damit die Wirklichkeit in Deutschland aus. Denn das Modell der Vater-Mutter-Kinder-Familie ist auf dem Rückzug – ob uns das gefällt oder nicht. Seit drei Jahrzehnten steigt die Scheidungsrate kontinuierlich an. 43 Prozent der Ehen wurden im Jahr 2003 in Westdeutschland geschieden, in Ostdeutschland waren es 37 Prozent. Laut dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden sind ein Fünftel der deutschen Haushalte Alleinerziehende.

Weitere erschreckende Zahle legen „Unicef“, der Kinderschutzbund und der Paritätische Wohlfahrtsverband vor: Seit 1990 steigt die Kinderarmut in Deutschland stärker an als in den anderen Industrienationen. Mittlerweile leben 2,5 Millionen Kinder in Armut – das bedeutet, jedes siebte Kind wächst unter der Armutsgrenze auf. Damit einher gehen schlechtere Gesundheit, schlechtere Ernährung und schlechtere Bildungschancen.

Gerda Holz, Direktorin des Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik erläuterte in ZDF-„heute“ weitere Begleiterscheinungen: „Sie sind zurückhaltender und scheuer, sie entwickeln sehr viel weniger Selbstvertrauen, ihr Selbstwertgefühl ist ein anderes.“ Die betroffenen Eltern sind überfordert mit ihrer Situation, finden den Weg aus dem Abseits nicht mehr.

Bessere Chancen für Kinder durch Betreuung von Anfang an

Kinderkrippen und Ganztagsangebote können ein Weg sein, diesen Kindern ausreichende Versorgung mit Nahrung, mit Zuwendung und altersentsprechender Förderung zu bieten. Und damit einen Weg aus der Armutsfalle und aus drohender Verwahrlosung.

Natürlich kommt es bei dem Ausbau von Kinderkrippen und privaten Betreuungsangeboten auf die Qualifikation des Personals und auf den Betreuungsschlüssel an. Hier bleibt zu befürchten, dass die finanziell angespannte Lage der Kommunen wieder zu großen Gruppen und zu wenigen Betreuern führt. Allerdings will die Familienministerin neben den Krippenangeboten auch die Angebote privater Betreuung wie Tagesmütter fördern. Für manches Kind mag diese persönliche Variante geeigneter sein als die Betreuung in einer Gruppensituation.

Ein Blick in die skandinavischen Länder zeigt: Kinderarmut ist dort gering, wo Gesellschaft, Politik und Wirtschaft konsequent Bildung von Anfang an für alle Kinder ermöglichen.

Um das Kindeswohl in Deutschland ist es schlecht bestellt

In der Diskussion geht es immer wieder um das „Kindeswohl“. Etliche Politiker sehen dieses durch eine Krippenbetreuung bedroht und meinen, die Bedürfnisse von Kindern könnten nur zuhause bei den Eltern erfüllt werden. Die neueste Studie des Kinderhilfswerks „Unicef“ wirft Licht auf das Wohl der Kinder in den Industrienationen. „Unicef“ untersuchte sechs Bereiche: materielle Situation, Gesundheit, Bildung, Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen, Lebensweise und Risiken sowie die eigene Einschätzung der Kinder und Jugendlichen.

In den Ergebnissen findet sich Deutschland auf Platz 11 der 25 untersuchten Länder. Die Niederlande, Schweden, Dänemark, Spanien, Schweiz und Finnland stehen an der Spitze der Statistik.

Mehr als die Hälfte der 15-jährigen Deutschen sagen, dass ihre Eltern kaum Zeit haben, sich mit ihnen zu unterhalten. In diesem Bereich belegt Deutschland den traurigen letzten Platz im internationalen Vergleich. Die Vorsitzende von „Unicef“ Deutschland kommentierte dies so: „Das sind gerade Faktoren, die über das Wohlbefinden eines Kindes fast mehr sagen als die Tatsache, wie viel Geld man in den Händen hat.“ Die Betreuungsquote in Deutschland liegt mit 8,6 Prozent deutlich hinter Ländern wie Schweden, Dänemark oder Frankreich.

Kinder brauchen Zuwendung und Sicherheit

Das Wohl von Kindern ist also tatsächlich in Gefahr: Wenn Eltern sich keine Zeit für sie nehmen, wenn die Bedürfnisse von Kindern nicht berücksichtigt werden oder wenn sie sogar vernachlässigt werden. Was Kindeswohl ist, muss im Einzelfall geprüft werden, es lässt sich weder politisch noch ideologisch festlegen.

Es gibt viele Mütter, die die ersten Jahre des Kindes lieber zuhause bleiben, statt ihr Kind durch andere betreuen zu lassen – und das sollte geachtet und respektiert werden. Dabei ist es wichtig, dass Frauen überhaupt eine Wahlmöglichkeit haben. Wenn Frauen – aus welchen Gründen auch immer – sich anders entscheiden möchten, sollte man daher vorsichtig sein, gleich eine Vernachlässigung des Kindeswohls zu diagnostizieren. Denn dass es auch mit dem Wohl der deutschen Kinder nicht zum besten bestellt ist in einem Land, in dem bisher die wenigsten Kinder unter drei Jahren fremd betreut wurden, führt uns die „Unicef“-Studie deutlich vor Augen.

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