„Kirchenmusik strahlt weit in die Gesellschaft hinein“

Die deutschen Musikhochschulen sorgen sich um die Zukunft der Kirchenmusik. In einem offenen Brief wenden sie sich an die Kirchen: Kirchenmusik diene dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, betonen sie. Ein Abbau der Ausbildungsstätten sei gefährlich.
Von Jörn Schumacher
Der Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, Christian Fischer

Die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen hat sich Mitte Oktober in einem offenen Brief an die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die evangelischen Landeskirchen und ihre Synoden gewandt. Sie seien „in tiefer Sorge um die Zukunft der Kirchenmusik wie auch um die hohe Bedeutung und Wirksamkeit der kirchlichen Kultur für die Gesellschaft“, heißt es da. Die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM) ist der Zusammenschluss der 24 staatlichen Musikhochschulen in Deutschland innerhalb der Hochschulrektorenkonferenz, die die Hochschulen in Deutschland repräsentiert. Die RKM vertritt national und international die Interessen der Musikhochschulen gegenüber Politik, Hochschulverbänden und Organisationen des Musiklebens und fördert den Erfahrungsaustausch untereinander in Fragen von Lehre, Forschung und Kunst.

Sechs der evangelischen Landeskirchen tragen kirchliche Musikhochschulen: in Bayreuth, Dresden, Halle, Heidelberg, Herford/Witten und Tübingen. Dazu gibt es 18 staatliche Musikhochschulen, die derzeit Kirchenmusik in Studiengängen anbieten. Die sechs kirchlichen Musikhochschulen stellen 52,3 Prozent der derzeit belegten Studienplätze.

Die Unterzeichner verweisen auf eine Resolution des Deutschen Musikrates aus dem Jahr 2022, in der es heißt: „In Zeiten, in denen die Gesellschaft auseinanderzudriften droht, spielen Kultur und Bildung mehr denn je eine wesentliche Rolle für eine freie und demokratische Gesellschaft.“ Der Kirchenmusik komme dabei eine „grundlegende Bedeutung“ zu. „Sie ist nicht nur seit jeher Ausdruck und Vermittlerin des Glaubens, sondern steht mit ihrer Wirkungskraft allen offen.“ Damit erfülle sie „wesentliche soziale Aufgaben“.

„Kirchenmusiker sind oft das Rückgrat von Gemeinden“

Der Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, Christian Fischer, ist seit 2019 Rektor der Staatlichen Hochschule für Musik in Trossingen. Zuvor war er über acht Jahre Rektor der Tübinger Hochschule für Kirchenmusik. Gegenüber PRO bezieht er Stellung.

PRO: Wie kommt es, dass die (weltlichen) Musikhochschulen den Kirchen eine Warnung schicken müssen?

Christian Fischer: Sowohl die kirchlichen wie die staatlichen Musikhochschulen bilden Kirchenmusiker aus, schon seit Jahrzehnten. Beide bilden sozusagen für den gleichen Markt aus. Kirchenmusikvertreter sitzen in vielen wichtigen Prüfungen der staatlichen Hochschulen. Ich selbst fühle mich deswegen stärker involviert, weil ich vor meiner jetzigen Tätigkeit achteinhalb Jahre Rektor an der kirchlichen Musikhochschule in Tübingen war und auch die innerkirchliche Sicht kennengelernt habe. Und ich habe weiterhin Kontakte zu kirchenmusikalischen Ausbildungsstätten und bekomme deren Sorge um die Zukunft angesichts der schwierigen finanziellen Entwicklung der Kirchen mit.

Wie kam es zu dem offenen Brief?

Wir sind immer im Austausch über die Entwicklung der kirchenmusikalischen Ausbildung, über die schwankenden Bewerberzahlen oder neue inhaltliche Bedarfe. Nach wie vor gibt es viele Interessenten für den Beruf des Kirchenmusikers. Ich höre aber von vielen Seiten, dass in den kirchlichen Gremien Fusionen und Verkleinerungen von Kirchenmusikhochschulen diskutiert werden, weil man da Einsparpotenzial sieht – was bei den geringen Budgets dieser Hochschulen nur minimale Entlastungen bei maximal verheerenden Auswirkungen bringt. Gleichzeitig fragt man sich: Was macht die EKD? Warum unterstützt sie aus ihrem umlagefinanzierten Haushalt nicht die Kirchenmusikhochschulen tragenden Landeskirchen? Stattdessen werden dort offenbar alte, schon vor Jahren verworfene Konzepte wieder aufgewärmt, wie die Idee, die evangelischen Kirchenmusikhochschulen auf drei Standorte zu reduzieren.

Die professionelle Kirchenmusik hat aber nach wie vor einen hohen Bedarf an gut ausgebildeten Kirchenmusikerinnen. Und derzeit gibt es bei diesen ohnehin einen Generationswechsel. Wenn kirchliche Hochschulen zusammengelegt werden, heißt das immer auch eine Reduzierung des Studienplatzangebots und damit weniger Kirchenmusikabsolventen. Bei den staatlichen Musikhochschulen gibt es wegen der sich wandelnden strategischen Ausrichtungen eine ähnliche Tendenz. Die derzeitigen Absolventenzahlen können den Bedarf an den momentan existierenden Kirchenmusikstellen jetzt schon nicht mehr decken. Deswegen machen uns die Fusions- und Kürzungsszenarien Sorgen.

Warum ist das problematisch?

Vor allem über die Kirchenmusik und die kulturellen Veranstaltungen der Kirche besteht nach wie vor eine große Wirkung in die außerkirchliche Gesellschaft. In vielen Gemeinden sind die Kirchenmusiker das Rückgrat; sie binden nicht nur Gemeindemitglieder, sondern holen auch außergemeindliche Menschen in die Kirchen. Pläne, an diesem Ast zu sägen, bereiten uns Sorgen angesichts des ohnehin schwindenden Impacts der Kirchen in der Gesellschaft.

Die Landeskirchen tragen sechs kirchliche Musikhochschulen. Was spricht gegen eine Zentralisierung der Ausbildung?

Sowohl die Studierenden als auch die Absolventinnen kommen oft aus der Region der jeweiligen Hochschule oder Landeskirche, und sie wirken oft auch in der jeweiligen Landeskirche. Man übertrage das einmal auf Universitäten: Was spräche dagegen, statt 420 Unis und Hochschulen in Deutschland nur noch 150 zu haben? Eine Hochschule strahlt immer auch auf die jeweilige Stadt und Region aus. Das gilt auch für Kirchenmusikhochschulen. Deren Studierenden sind musikalisch in den Kirchengemeinden, Musikvereinen und Musikschulen vor Ort aktiv. Das zu zentralisieren, wäre absolut kontraproduktiv.

„Es ist wichtig, dass die Gottesdienstmusik eine hohe Qualität hat, textlich wie musikalisch.“

Aus dem offenen Brief geht hervor, dass sich die staatlichen Musikhochschulen als Experten bei den Priorisierungsdiskussionen in den Kirchen anbieten?

Wir als Rektorenkonferenz sind kein kirchlicher Player, das ist uns bewusst. Da wir in Fragen der Hochschulentwicklung aber über enorme Erfahrung verfügen, stellt sich die Frage: Warum sollten strukturelle Entscheidungen nur mit innerkirchlichen Experten beraten werden, warum sollte man sich nicht auch Expertise von außerhalb holen? Wir drängen uns nicht auf, verstehen das als ein Angebot. Wir haben bereits Rückmeldungen aus der EKD und einzelnen Landeskirchen bekommen.

Es gibt ja im Grunde zwei Arten von Kirchenmusik. Es gibt Musik in der Kirche, im Konzert abends um 19 Uhr, und es gibt Musik im Gottesdienst sonntags morgens …

Das sehe ich zusammengefasst. Ich habe selbst immer Chöre geleitet. Da sind immer musikalisch „klassisch“ sozialisierte Menschen zu den Bach-Kantaten im Gottesdienst gekommen. Und auch im Jugendbereich kommen Leute, die eigentlich nicht besonders an die Kirche angebunden sind, in die kirchlichen Musik-Teams und gehen dann auch in Gottesdienste oder Veranstaltungen mit kirchlicher Popularmusik.

Ist Kirchenmusik noch zeitgemäß?

Schauen Sie sich mal die Bandbreite in der Kirchenmusik an – das ist ja nicht nur Bach, Mozart oder Bruckner! Allein im Bereich Gospel gibt es eine riesige stilistische Bandbreite. An der Kirchenmusikhochschule in Tübingen haben wir einen Pop-Studiengang aufgebaut – übrigens überwiegend mit nichtkirchlichen Jazz- und Popmusikern – der läuft sehr gut und strahlt in die Landeskirche hinein. Nach meiner Erfahrung ist es wichtig, dass die Gottesdienstmusik eine hohe Qualität hat, textlich wie musikalisch. Je besser Kirchenmusiker ausgebildet sind, je mehr sie die ganze Bandbreite umsetzen können, umso weniger wird musikalisch reizlose Funktionsmusik gespielt, wie manche Musik in der Liturgie. Die Popular-Kirchenmusik, die vor allem an den Kirchenmusikhochschulen inzwischen gut ausgebaut ist, sollte konkurrieren können mit guter säkularer Popularmusik.

Aus alldem höre ich heraus, dass Sie auch selbst eine Anbindung an die Kirche haben?

Ja, und die habe ich durch mein Musikstudium bekommen. Ich bin als Chorleiter und Sänger mit viel Kirchenmusik groß geworden, zunächst mit Bach, Schütz und Brahms, und habe dann meine Horizonte erweitert. Inzwischen bin ich wegen meiner Leitungsarbeit kaum noch künstlerisch tätig, aber wenn ich irgendwann aus dem Amt ausscheide, hoffe ich da wieder aktiv werden zu können. Ich zahle meine Kirchensteuer übrigens sehr, sehr gerne, vor allem wegen der vielen tollen Menschen, die in der Kirche musikalisch oder diakonisch tätig sind.

Vielen Dank für das Gespräch!

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