Kirche in Deutschland: Debatte im F.A.Z.-„Lesesaal“

Der "Lesesaal" im Online-Angebot der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" will einen anspruchsvollen Diskurs über die Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1949 und 1990 anregen. Neben verschiedenen Fragestellungen steht seit Dienstag auch die Rolle der Kirchen und des Glaubens in Deutschland zur Debatte. Namhafte Wissenschaftler und Autoren kommentieren unter der Überschrift "Glaubensmüder Westen - entchristianisierter Osten?" ein neues Buch des Historikers Hans-Ulrich Wehler.
Von PRO

„In diesem Lesesaal wollen wir darüber diskutieren, wie sehr die Bundesrepublik, die wir kannten, Geschichte geworden ist und wie sie uns dennoch heute bestimmt“, schreibt F.A.Z.-Mitherausgeber Frank Schirrmacher zur Einleitung. Die Neuerscheinung des Buches „Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990“ von Wehler gab der Zeitung den Anlass, Wissenschaftler, Historiker, Publizisten, aber auch Leser zu einer Diskussion über diese Epoche Deutschlands einzuladen. Dies gebe „die Möglichkeit, herauszufinden, was es ist, das wir verloren haben“, so Schirrmacher. „Meinungen sind erwünscht, aber auch Erinnerungen, Dokumente, Hinweise.“

So finden sich seit Mitte August Foren auf der Webseite des „Lesesaal„, die Titel tragen wie „Der deutsche Sozialstaat – eine ‚kollektive Massenbestechung‘?“, „Sind die 68er politisch gescheitert?“ oder „Adenauer, Brandt, Kohl: Was wurde aus dem Charisma nach Hitler?“. Seit Dienstag steht die Frage online: „Glaubensmüder Westen – entchristianisierter Osten?„. Dazu wurde ein Auszug aus Wehlers Buch veröffentlicht, das sich insbesondere mit den Kirchen beschäftigt. „Erleuchtet vom christlichen Glauben fühlen sich immer weniger Deutsche – in Ost und West“, mit diesen Worten leitet Schirrmacher die Debatte ein.

Kulturkampf der DDR führte zu Entchristlichung im Osten

Wehler schreibt in seinem Buch über den ostdeutschen Protestantismus: „Der mit der Unerbittlichkeit des staatlich propagierten und praktizierten Atheismus vorangetriebene Kulturkampf gegen die christlichen Kirchen hat nach vierzig Jahren zu einer religions- und kirchenfeindlichen Säkularisierung, geradezu zu einer unleugbaren Entchristlichung geführt, welche seither die atheistische Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung von der Konfessionsgeschichte aller anderen westlichen Länder markant unterscheidet. (…) Da im ganz überwiegend lutherischen Ostdeutschland die große Majorität 1945 der Evangelischen Kirche angehörte, war vor allem sie der SED-Attacke ausgesetzt. (…) Das kommunistische Regime wollte den religiösen Glauben und seine Ausübung nach Möglichkeit auslöschen oder doch völlig in die Privatsphäre der einzelnen zurückdrängen.“

In einer Reaktion auf Wehlers Text schreibt der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg im „Lesesaal“, Wehler habe sich zu sehr auf die Kirchen fixiert und gehe zu wenig allgemein auf „Religion in Deutschland“ ein. „Natürlich hat das eine mit dem anderen viel zu tun. Aber es macht einen großen Unterschied, wo eine ‚Deutsche Gesellschaftsgeschichte‘ die eigentlich wesentlichen Fragen verortet“, so Kielmansegg. „Wehler ist so auf die Kirchen fixiert – und zwar in herzlicher Abneigung, dass ihm die Religion fast ganz aus dem Blick gerät. Die Gründe für seine demonstrative Abneigung gegen die Kirchen liegen vor allem im, der Begriff ist hier weit gefasst, politischen Bereich.“

Stattdessen seien Fragen wichtig wie die nach der „dramatischen Beschleunigung des Säkularisierungsprozesses in eben dieser Phase“: Oder: „Wie stark, wie lebendig ist das Christentum in Westdeutschland noch? Ist, was die einen als Säkularisierung beschreiben, vielleicht nicht richtiger, wie es andere tun, als Entkirchlichung gefasst? Wenn ja, was bedeutet es, dass Religiosität aus den Kirchen auswandert?“ Weiter schreibt Kielmansegg: „Zur ‚Religionsgeschichte‘ Westdeutschlands in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts gehört auch, dass eine neue Religion nach Deutschland eingewandert ist, um hier zu bleiben – der Islam.“ Der tauche in Wehlers Text nur „in sehr knappen Bemerkungen“ auf.

Klaus Harpprecht: Wehler unterschlägt christlichen Widerstand im NS-Regime

Die Schriftstellerin Monika Maron merkt an: „Ob die Renaissance des Glaubens, weltweit vor allem in Gestalt fundamentalistischer Glaubensrichtungen, als zivilisatorischer Gewinn gewertet werden kann, ist wohl zu bezweifeln. Religiosität an sich muss keine Tugend sein und Atheismus keine Untugend. Der kulturelle Verfall und die Verwahrlosung der ostdeutschen Gesellschaft lag vor allem an der radikalen Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und der damit verbundenen Vertreibung der gebildeten und kulturprägenden Schichten, der Herrschaft der Ungebildeten über die Gebildeten und der daraus resultierenden Angst vor Bildung und der Festlegung der Bildungsideale am eigenen Bildungshorizont.“

Der Historiker Klaus Harpprecht kritisiert, Wehler habe entscheidenden Widerstand in der Kirche gegen das Nazi-Regime unterschlagen. „Der Widerstand gegen das arisierte NS-Christentum sammelte sich in der ‚Bekennenden Kirche‘, die in der ‚Barmer Erklärung‘, im wesentlichen von Karl Barth und Martin Niemöller formuliert, die Freiheit ihres Glaubens gegen den weltanschaulichen Totalitätsanspruch des Regimes verteidigten“, so Harpprecht. „Zum anderen versäumt er den Hinweis auf das Martyrium nicht nur katholischer Priester, sondern auch von hunderten, wenn nicht tausenden protestantischer Pfarrer.“ Unerwähnt lasse Wehler, „dass der leidenschaftliche christliche Glaube das entscheidende Motiv der meisten Mitglieder des Widerstandes war“. Dietrich Bonhoeffer sei „bedeutendster Zeuge“ der Christen im Widerstand, „der heute in der gesamten protestantischen Welt verehrt wird“.

Der Historiker Paul Nolte kommentiert Wehlers Buch unter anderem mit den Worten: „Etwas ironisch könnte man sagen: Bei diesem Thema kommt die DDR fast besser weg als die Bundesrepublik, für deren Kirchen- und Religionsgeschichte sich Wehler vieles entgehen lässt, was eine Gesellschaftsgeschichte eigentlich interessieren müsste.“

Der deutsch-französische Soziologe und Politikwissenschaftler Alfred Grosser vermisst in Wehlers Beitrag die Einsicht, „dass sich in Deutschland wie in Frankreich das Gottesbild verändert hat. Gott ist nicht mehr der zürnende, strafende, der für die Guten gegen die Bösen mitkämpfende Gott, sondern ein Gott, der sich zum leidenden Mensch gemacht hat“. (PRO)

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