„Keine Ahnung, warum ich vom Schreiben leben kann“

Franz Josef Wagner, "Bild"-Kolumnist und früherer "Bunte"-Chefredakteur, hat einen "Brief an Deutschland" geschrieben. Sein Buch ist eine überraschend tiefgründige Reise durch sein Leben und die Geschichte der Bundesrepublik.
Von PRO

Franz Josef Wagner gehört zu den prominentesten und gleichzeitig zu den skurrilsten Gestalten des deutschen Journalismus. 1943 geboren, erlebte er die Geburt der Bundesrepublik Deutschland als Schuljunge, ihre Höhen und Tiefen erst als Teenager, später als Reporter. Wagner war alles: Chefredakteur der "Bunten" und der "B.Z.", Kriegsreporter im Nahen Osten und in Vietnam, Ghostwriter für seinen Freund Udo Jürgens. Seit 2001 ist Wagner "Chefkolumnist" des Springer-Verlags, und erreicht mit der "Post von Wagner" in der Bild-Zeitung täglich Millionen Leser. Sein bekanntester Spitzname: "Gossen-Goethe".

Jetzt hat das ganze Land "Post von Wagner": "Brief an Deutschland" ist eine Art Autobiographie Wagners. Dabei beschreibt er die Entwicklung einer Republik, wie er sie selbst erlebt hat: von Adenauer bis Angie, von banal bis dramatisch. Gorbatschow und Mauertote, Boris Becker und die RAF. "Das ganze Dorf betete, dass der Russe nicht kommt" – Wagners Kindheit. Er flieht vor dem Muff der 50er aus dem elterlichen Reihenhaus nach Genf und Paris. Er arbeitet in einem Supermarkt, plauscht in einem Café mit Sartre, will selber Dichter werden.

Es kommt anders. Zurück in Deutschland, arbeitet Wagner sich als Boulevardjournalist hoch, bereut, einer trauernden Mutter ein Foto ihres Sohnes abgeschwatzt zu haben, ihr Blick verfolge ihn bis heute. Er wird Chefreporter der "Bild"-Zeitung, trifft die Reichen, die Berühmten – und die Berüchtigten. Wagner geht auf Sauftour mit Andreas Baader, der  trotz allem gut aussah: "Jedenfalls flirteten die Mädchen zuerst mit ihm und nicht mit mir."

Wagner interviewt die Witwe Schleyer und den jungen Boris Becker ("Er sah aus wie Nutella und Milch"), reist um die Welt, Israel, Vietnam, Monaco. Zu Besuch bei den Eltern im Reihenhaus, schämen die sich für seinen protzigen Porsche, er darf nicht vor dem Haus parken. "Als in den Siebzigern, Achtzigern vom Waldsterben die Rede war, wählte ich das erste Mal Grün. Manche Menschen haben die Wüste als Heimat, wir Deutsche den Wald, als wäre es noch nicht finster genug." Hier bezieht Wagner sich auf die Zeit des Nationalsozialismus. "Wie kann man als Deutscher ohne Reue leben? Kann mir das jemand sagen?"

Porträt des Berufs "Journalist"

"Zu 60 Prozent besteht ein Reporter aus Neugier, mit dem Rest ist er unzufrieden", schreibt Wagner, und macht seine eigenen Erfahrungen zum Charakteristikum für den Berufsstand Journalist. "Der klassische Reporter lebt getrennt oder ist geschieden, er hat ein Kind und wohnt in einem modernen Apartmenthaus, seine Nachbarn kennt er nicht." Der "klassische Reporter", mit dem der Autor zweifelsohne sich selbst meint, "findet sich überall zurecht, nur nicht in seinem eigenen Leben." Wagner "verehrte" "Bravo"-Erfinder und Kohl-Sprecher Peter Boenisch ("Er weckte Wunschträume in mir, Hoffnungen"), nennt ihn liebevoll "Pepe". "Ohne Story", fasst Wagner seine Arbeitssucht zusammen, "ist ein Reporter nicht viel, wie ein Vampir tagsüber."

Wehmütiges Selbstgespräch

Franz Josef Wagner liest sich wie das Protokoll eines Selbstgesprächs, das ein einsamer Kauz nach dem dritten Bier in der Kneipe führt. Kaum einer würde sich die Zeit nehmen, hinzuhören. Zu abschreckend die wirren Gedankensprünge, die Übertreibungen, die Melodramatik. Doch diejenigen, die sich die Zeit nehmen, hinzuhören, entdecken nicht selten einen überraschenden Tiefgang. Wagner schreibt ohne Kapitel und Inhaltsverzeichnis, sein Buch ist ein Sammelsurium von Erinnerungen, mal im Präsens, mal im Präteritum. Spricht er über seine Zeit als Kriegsreporter, wechselt Wagner, als schaudere es ihn, in die dritte Person: "Er war 27 und cool, er hat geschrieben, dass er AFN – American Forces Network – im Dschungel hören kann".

Sonderlinge, die viel erlebt haben, und später davon schwafeln – wer das nicht als Zeitverschwendung abtut, wird zumindest beim "Brief an Deutschland" mit einer sentimentalen, nachdenklichen Lektüre belohnt. Wagner bringt dabei seine volle literarische Bandbreite zur Geltung, und wirkt durchgehend authentisch. Er schreibt seine unverwechselbaren Gaga-Sätze ("Er guckt drei Biere lang auf ihre Bluse"), um an anderer Stelle voller Wehmut auf die unerfüllten Wünsche seines Lebens zurückzublicken: "Wie gern hätte ich in meinem Leben ein Mädchen kennengelernt, das mir Blumen pflückt."

"Keine Ahnung", gibt Wagner freimütig zu, "warum ich vom Schreiben leben kann". Mit seinem Buch beantwortet er die Frage selbst. (pro)

Franz Josef Wagner: Brief an Deutschland, Diederichs, 160 Seiten, 17,99 Euro, ISBN: 978-3424350418

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