Jugendschutz in den Medien: An der Realität vorbei?

Am 1. Januar 2011 tritt die von den Ministerpräsidenten der Länder beschlossene Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV) in Kraft. Bereits im Vorfeld hatte dies eine kontroverse Debatte ausgelöst. Knackpunkt ist die geplante Einführung einer Alterskennzeichnung von Internet-Inhalten. Gegner sehen dies als nicht praktikabel an und fürchten, dass eine Rechtsunsicherheit geschaffen wird.
Von PRO

Nach der Neufassung des Vertrags sollen ab 2011 alle Anbieter ihre
Internetseiten auf jugendgefährdende Inhalte hin überprüfen und das
Angebot entsprechend mit einer Altersfreigabe deklarieren oder die
Inhalte nur Nutzern ab einem bestimmten Alter zugänglich machen. Die
Betreiber müssen selbst einschätzen, ob ihre Angebote ab 12, 16 oder 18
Jahren zugänglich sein sollen. Falls dies nicht erfolgt, droht ein
Bußgeld. Wer seine Seite nicht klassifiziert, dessen Angebot wird
künftig auf manchen Computern womöglich gar nicht mehr angezeigt,
sondern von Jugendschutzprogrammen ausgefiltert.
Die Regierungschefs der Länder wollen mit diesem Schritt der Entwicklung Rechnung tragen, dass Internet, Rundfunk und Fernsehen immer mehr zusammenwachsen. Die neue Regelung soll zum anderen Kinder und Jugendliche davor schützen, im Netz auf pornografische Elemente, schreckliche Bilder, brutale Filme oder Spiele zu stoßen, die sie verstören, erschrecken und ihre Entwicklung beeinträchtigen können.

Erstes Blog will wegen Jugendschutz-Gesetz schließen

Skepsis herrscht dagegen in der Netzwelt. "Spiegel Online" bezeichnete die Neufassung als "weltfremden Staatsvertrag". Wie Spiegel-Redakteur Christian Stöcker schreibt, habe die geplante Novellierung in der deutschen Blogosphäre zu einem Aufruhr geführt: "Der neue Staatsvertrag für Jugendschutz in den Medien enthält Regelungen fürs Internet, die absurd, ja gefährlich erscheinen. Vermutlich droht dem neuen Vertrag jedoch das gleiche Schicksal wie dem alten – man wird ihn ignorieren." Auch hätten Institutionen, wie die "Kommission für Jugendmedienschutz" (KJM) und die Organisation "Jugendschutz.net", die die Einhaltung überwachen sollten, gar nicht die Ressourcen, ständig das "deutsche Internet nach Verstößen zu durchkämmen".

Erste Blog-Betreiber schalten ihre Webseite ab oder drohen damit. Andere denken laut darüber nach, sich ins Ausland abzusetzen. Viele fürchten, dass mit dem neuen Staatsvertrag die Webseiten-Betreiber untragbaren juristischen und finanziellen Risiken ausgesetzt werden. "VZlog", ein erfolgreiches Blog für Jugendliche innerhalb der VZ-Netzwerke, hat seine Konsequenzen bereits gezogen. Mit dem Inkrafttreten der neuen Jugendschutzregeln sehen die Betreiber keine Möglichkeit mehr, das Internet-Blog sinnvoll weiter zu betreiben, meldet die Nachrichtenagentur dpa.

Die Betreiber werteten "VZlog" seit drei Jahren als erfolgreichen Beitrag zur "dringend nötigen Förderung der Medienkompetenz von Jugendlichen". Mit der neuen Rechtsgrundlage gebe es drei Optionen, die allesamt nicht realisierbar seien: Eine Altersverifikation oder eine Beschränkung der "Sendezeiten" seien aus finanziellen und technischen Gründen nicht umsetzbar. Die dritte Option der Alterskennzeichnung sei schließlich überhaupt nicht realisierbar.

"Wir müssten diese Einschätzung selbst vornehmen und könnten uns keine Experten auf diesem Gebiet leisten, die alle 845 Artikel, 1218 Medieninhalte und 15797 Kommentare bewerten", so die Betreiber in ihrer eigenen Stellungnahme. Es sei unmöglich das Blog erst ab 18 Jahre freizugeben, da über 70 Prozent der Leser nicht zu dieser Altersgruppe gehörten. Guido Brinkel, zuständig für Medienpolitik beim IT-Branchenverband "Bitkom", schränkt ein, dass er die "Untergangs-Befürchtungen der Blogosphäre", nicht teile, "andernfalls dürfte es die Blogs schon seit 2003 nicht mehr geben", weil ja auch der alte Vertrag schon Jugendschutzregeln für Web-Seiten vorsehe.

"Vertrag vereinbart nicht existente Möglichkeiten"

"Spiegel online"-Redakteur Christian Stöcker verweist darauf, dass der Staatsvertrag zuletzt 2003, in einer Zeit in der es nur einen Bruchteil der heutigen Internet-Nutzer gab, verändert wurde. "Sendezeiten fürs Internet? So funktioniert ein weltweites, digitales 24-Stunden-Medium einfach nicht", stellt Stöcker klar. Die im Vertrag erläuterten "technischen Mittel" um den Zugang in Form einer Filtersoftware zu begrenzen gebe es zwar. Bisher sei aber kein einziges Jugendschutzsystem für Internetnutzer offiziell zertifiziert.

Der Medienpädagoge Jürgen Ertelt kritisiert deshalb bei "Spiegel online": "Der JMStV vereinbart nicht existente Möglichkeiten." Für die Mitglieder der Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) Jugendschutzprogramme sei der Vertrag ein Gewinn, denn diese unterlägen nun keiner rechtlichen Ungewissheit mehr. Blogger und Kleinst-Anbieter von Internetseiten könnten sich eine dann notwendige "ordentliche FSM-Mitgliedschaft" ab 4000 Euro pro Jahr gar nicht leisten.

"Sie müssen befürchten, dass sie Fehler begehen" – etwa einen nicht gekennzeichneten Eintrag veröffentlichen, der eigentlich erst ab 16 freigegeben ist. "Wenn ich nicht klassifiziere, wird mein Inhalt automatisch als ‚ab 18‘ klassifiziert", verdeutlicht der Wissenschaftler. Mit entsprechendem Jugendschutzprogramm würde die Seite dann schlicht nicht angezeigt. Problematisch finden die Kritiker auch, dass gewerbsmäßige Anbieter künftig einen Jugendschutzbeauftragten benennen sollen. Die Veröffentlichung von dessen Kontaktadresse sehen viele als Risiko für wettbewerbsrechtliche Abmahnungen.

Wer als "Privatanbieter" einen Online-Fragebogen der KJM zur Selbst-Alterseinstufung ausfüllt, soll von einem Bußgeldbescheid verschont bleiben und allenfalls eine Aufforderung erhalten, die Kennzeichnung zu verändern. Dies, so Stöcker, sei allerdings nur dann sinnvoll, wenn man befürchtet, "Jugendschutzrelevantes auf seinen Seiten vorzuhalten – was für den Großteil der Blogs und privaten Websites nicht gelten dürfte. All diese Seitenbetreiber könnten eigentlich weitermachen wie bisher." Ertelt zeigt noch eine weitere Baustelle auf: "Denken Sie an Jugendliche, die eine Schülerzeitungs-Seite betreiben, die müssen sich jetzt fragen, wie weit ihre Satire denn nun gehen darf."

Kapitulation der deutschen Politik?

In Insiderkreisen, so Stöcker, wird bereits über eine Abschaffung des Vertrages nachgedacht, um den Realitäten eines weltweiten Netzes tatsächlich gerecht zu werden. "Aber das käme einer Kapitulation der deutschen Politik vor den Realitäten des Netzes gleich. Vermutlich wird den Neuen das gleiche Schicksal ereilen wie den Alten: Man wird ihn ignorieren." Der Suchmaschinenanbieter-Verband "Suma" ist initiativ geworden und will die Ratifizierung des neuen Staatsvertrages verhindern. Die Gesellschaft für Informatik e.V. fordert derweil eine dringende Änderung – aktuell sei er für den Jugendschutz wirkungslos.

Der Staatsvertrag zwischen allen deutschen Bundesländern soll den einheitlichen Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Angeboten in Rundfunk und Telemedien gewährleisten, die deren Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefährden sowie die Menschenwürde oder sonstige durch das Strafgesetzbuch geschützte Rechtsgüter verletzen. Im Vertrag sind Regelungen getroffen zu unzulässigen und  entwicklungsbeeinträchtigenden Angeboten, Jugendschutz in Werbung und Teleshopping, die Festlegung der Sendezeit sowie das Kenntlichmachen von Sendungen.

Die Einhaltung kontrolliert die zuständige Landesmedienanstalt und die Kommission für Jugendmedienschutz, unterstützt wird sie durch "jugendschutz.net" und die Überprüfungen der Einrichtungen der Freien Selbstkontrolle (FSK). Der medien- und netzpolitische Sprecher des Bundesverbandes der Digitalen Wirtschaft Peter Bisa findet deutliche Worte zum Vertragsentwurf: Der Staatsvertrag sei "ein erneuter Beleg dafür, wie die Politik mit untauglichen Mitteln der analogen Welt gegen alle vorherigen Empfehlungen die digitale Welt zu lenken versucht". Noch knapper und schärfer formulierte es der "Lawblogger" Udo Vetter, der sich um Einhaltung der Regeln im Netz kümmert: "Die geplanten Regelungen sind weltfremd im wahrsten Sinne des Wortes." (pro)

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